Wege in
die Kriegsgefangenschaft. Erinnerungen und Erfahrungen deutscher Soldaten, hg.
v. Scherstjanoi, Elke. Karl Dietz Verlag, Berlin 2010. 304 S., 33 Abb.
Besprochen von Martin Moll.
Im neuen
Millenium ab 2000, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Ende von NS-Herrschaft
und Zweitem Weltkrieg, wurde zunehmend deutlich, wie sehr die Zeit drängt, um quasi
in letzter Minute Erlebnisberichte einstiger Zeitzeugen dieser für Europa schicksalsschweren
Jahre dokumentarisch festzuhalten – sei es schriftlich oder mittels
audiovisueller Medien. Im zurückliegenden Jahrzehnt sind daher nochmals und
wohl letztmals zahlreiche Publikationen erschienen, in denen damals Beteiligte
unterschiedlichster Gruppen zu Wort kommen: (Jüdische) Opfer des NS-Regimes,
deutsche Bombengeschädigte und Heimatvertriebene, Kindersoldaten und Flakhelfer
und, last but not least, Vertreter jener Millionen Soldaten, die oft jahrelang
als Kriegsgefangene interniert waren, bei welcher Gewahrsamsmacht auch immer.
Der hier
vorzustellende, von Elke Scherstjanoi sorgfältig zusammengestellte und,
wo erforderlich, ebenso sparsam wie sachkundig erläuterte Sammelband mündlicher
und schriftlicher Zeitzeugenberichte eröffnet einen sehr speziellen Zugang zu
den Erlebnissen und Erfahrungen deutscher Soldaten in sowjetischer
Kriegsgefangenschaft. „Wege in die Kriegsgefangenschaft“ meint hier die
unmittelbare Vorgeschichte der Gefangennahme, diese selbst und die ersten
Wochen danach, nicht jedoch den fast ausnahmslos mehrjährigen unfreiwilligen Aufenthalt
der Protagonisten im Inneren der Sowjetunion. Zeitlich gesehen, wird somit bewusst
nur ein schmales Segment der gesamten Dauer der Gefangenschaft abgedeckt,
jedoch ein in vielerlei Hinsicht überaus interessantes und einschneidendes:
Behandelt wird der krasse Bruch, den der Rollenwechsel vom deutschen Landser
zum Gefangenen für ausnahmslos alle Betroffenen markierte, deren Befürchtungen
und die Kontrastierung dieser meist negativen Erwartungen mit dem, was dann
tatsächlich eintraf.
Die hier
zu Wort kommenden Zeitzeugen waren – da sie erst im 21. Jahrhundert befragt
wurden – zwischen 1941 und 1945, als der deutsch-sowjetische Krieg tobte, noch
sehr jung, am stärksten vertreten sind die Geburtsjahrgänge zwischen 1920 und
1927, so dass es sich damals meist um Mannschaftsdienstgrade oder
Unteroffiziere handelte. Alle kämpften an der Ostfront bzw. fielen dort der
Roten Armee in die Hände, kaum einer durch bewusstes Überlaufen, sondern durch
Aufgabe in einer aussichtslos erscheinenden Situation gegenüber einem als enorm
überlegen wahrgenommenen Feind. Durchgängig verwiesen wird auf die
Indoktrination durch die NS-Propaganda und die Befürchtung, von den Sowjets
sofort erschossen zu werden. Obwohl solche Vorkommnisse fallweise berichtet
werden, dominiert insgesamt eine Erinnerung, die – bei allen Hinweisen auf Not
und Entbehrung, Hunger und Kälte, Prügel und die Abnahme der letzten
Habseligkeiten – vielerlei menschliche Gesten auf der Seite des einstigen
Feindes verzeichnet und oft Verwunderung über die vergleichsweise humane
Behandlung, die man erfuhr, zum Ausdruck bringt.
Auf der
Erzählebene liest man die individuellen Geschichten, ungeachtet zahlreicher
Parallelen und Wiederholungen, mit großer Betroffenheit, insbesondere wenn
diese seinerzeitigen Teenager aus heutiger wie damaliger Sicht über ihre völlig
ungewisse Zukunft reflektieren. Einen Reim auf das Gelesene muss man sich
selber machen, bietet doch die knappe Einleitung hierfür nur wenig analytisch-zusammenfassende
Anhaltspunkte. Wie repräsentativ die hier ausgewählten Beispiele (80 Interviews
und 15 schriftliche Zeugnisse) für das Schicksal von Millionen sind, wird sich
kaum mehr klären lassen. Gegen eine durchgängige Repräsentativität der Berichte
sprechen allerdings zwei Umstände: Wenigstens die Hälfte der hier vertretenen
Zeitzeugen geriet nicht in der Hitze des Gefechtes während des Krieges, sondern
erst rund um die deutsche Kapitulation im Mai 1945 in russische Gefangenschaft.
Unerklärlich hoch unter den in kurzen biographischen Skizzen vorgestellten
Erzählern ist der Anteil jener, die nach dem Krieg in der Deutschen
Demokratischen Republik lebten, dort ein Studium absolvierten und/oder höhere
politische Funktionen im SED-Staat bekleideten. Man kann nur spekulieren, ob dadurch
deren Sicht auf die Sowjets und das häufige Reflektieren über die eigene Schuld
am Krieg verzerrt wurden, auch noch Jahre nach dem Untergang der DDR.
Graz Martin
Moll