Weber, Ines, Ein Gesetz für Männer und Frauen. Die frühmittelalterliche Ehe zwischen Religion, Gesellschaft und Kultur, 2 Teilbände (= Mittelalter-Forschungen 24, 1, 2). Thorbecke, Ostfildern 2008. XIV, 395, VI, 364 S. Besprochen von Hiram Kümper.
Die ältere Lehre, fußend etwa auf die prominenten Studien Herbert Meyers oder Paul Mikats, hat sich die frühmittelalterliche Ehe und ihr Zustandekommen als in vierfacher Weise möglich vorgestellt: neben der frei geschlossenen Friedelehe und die gewaltsam gestifteten Raubehe sah man das dauerhafte Kebsverhältnis und schließlich die dotierte Muntehe als nicht nur gelebte, sondern auch in irgend einer Weise normativ begründete Formen ehelichen Zusammenlebens. Bis heute findet sich trotz vereinzelter Kritik diese Vorstellung von den vierfältigen frühmittelalterlichen Eheformen. Dagegen setzt nun die Verfasserin die pointierte These: „Weder die Texte der Konzilien, Kapitularien und Bußbücher noch die Leges und Formulae lassen auf derartig unterschiedliche Eheformen schließen“ (S. 33).
Kritisch, aber angenehm abwägend und niemals polemisierend setzt sich Weber mit der bisherigen Forschungsliteratur auseinander. Ihr eigener neuer Ansatz stellt sehr überzeugend den Konsens und dessen Zustandekommen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Dabei argumentiert sie auf breiter Grundlage normativer Texte (Formulae, Kapitularien, Kanones, Leges und Bußbücher), die sie in konkrete lebensweltliche Zusammenhänge einzuordnen sucht. Besonders die komplexen Verflechtungen der an der Eheschließung beteiligten Gruppen werden einleuchtend herausgearbeitet. Was darüber ein wenig kurz kommt, ist die Frage nach dem tatsächlichen Stellenwert des Konsenses der beiden Ehepartner, namentlich der Braut. Weber hat sicher Recht, dass diese Frage, die bislang zu den Leitfragen der Untersuchung frühmittelalterlicher Eheschließungen zählte, auf anachronistische Prämissen aufbaut. Dagegen schlägt sie einen zeitgemäßen Konsensbegriff vor, der sich nicht an den Wertmaßstäben moderner Individualisierung messe, sondern sich wesentlich als „Verwandtenkonsens“ präsentiere, „der den Willen der jeweils beteiligten Verwandten spiegelt und gleichzeitig den Konsens der Heiratenden nicht gänzlich ausschließt“ (S. 84). Dieser auf den ersten Blick etwas ausflüchtigen Formulierung, die in ähnlicher Form immer wieder aufgerufen wird – zum Beispiel auch im Fazit: „Konsens heißt demnach nicht einfach subjektiver Konsens der Brautleute selbst, sondern ist gleichzusetzen mit einem komplexen Geschehen aus unterschiedlichen Willenserklärungen, an dem vier bzw. fünf Vertragsparteien (Verwandtengruppe […], Bräutigam, Braut bzw. Herr) mit ihrer Zustimmung konstitutiv beteiligt waren.“ (S. 371) –, ist zunächst kaum zu widersprechen; es fragt sich aber, was dadurch und für wen gewonnen wird. Fraglich bliebe dann nämlich, welche Auswirkungen die kanonistische Auseinandersetzungen des 11. und 12. Jahrhunderts um die Konsensehe, von denen man bislang möglicherweise geneigt war, allzu voreilig auf das Frühmittelalter zurückzuschauen, noch gehabt haben können. Und es ist ja zumindest auffällig, dass erst seit der Wende zum 13. Jahrhundert die Quellen in merklicher Zahl nach der Willens- bzw. Nicht-Willens-Äußerung der Frau (und eben nicht der Verwandtschaft oder anderer) als konstitutives Element der Notzucht fragen, wodurch sich diese erst deutlich vom älteren, unspezifischen raptus-Delikt zu trennen beginnt. Irgendetwas scheint also doch während des Hochmittelalters im Konsensverständnis der Zeitgenossen zu passieren. Solche Überlegungen zeigen aber im Grunde nur, als wie anregend Webers gründliche Studie sich für weitere Forschungen erweisen könnte.
In einem zweiten Band werden sämtliche in der Arbeit herangezogenen Quellen(-auszüge), getrennt nach Textgattungen, im lateinischen Wortlaut der einschlägigen kritischen Edition sowie in einer zum Teil erstmaligen, zum Teil neuen Übersetzung der Verfasserin ins Deutsche wiedergegeben. Besonders für die Formulae, Kapitularien und Konzilskanones, von denen bislang nur sehr vereinzelte Übersetzungen vorlagen, ist das eine dankenswerte Zusatzleistung, selbst wenn hier natürlich nur ein thematischer Auszug aus dem reichen Material übersetzt worden ist. Ähnliches gilt für die Libri penitentiales. Für Neuübersetzung der Leges, die ja bereits seit vielen Jahrzehnten in den „Germanenrechten“ in deutscher sowie mittlerweile durchweg auch in englischen Übersetzungen vorliegen, hätten Hinweise auf wichtige Abweichungen in der Neuübersetzung deren Wert zusätzlich unterstreichen können. Im ersten Band (S. 20-26) allerdings finden sich in diesem Zusammenhang einige sehr klare und vernünftige Ausführungen zur Übersetzung häufig wiederkehrender, einschlägiger Termini. Der zweite Band enthält dann auch das Literaturverzeichnis und die eingehenden Register, die aber leider den Quellenteil nicht mit erschließen.
Mit dieser gelehrten und auf breiter Materialbasis wohl überlegt argumentierenden Studie ist die Verfasserin im Wintersemester 2003/04 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen promoviert worden. Sie leistet damit einen Beitrag zur Erforschung der frühmittelalterlichen Paar- und Gruppenbeziehungen, an dem man zukünftig nicht wird vorbeigehen können.
Bielefeld Hiram Kümper