Ullrich,
Christina, „Ich fühl’ mich nicht als Mörder“.
Die Integration von NS-Tätern in die Nachkriegsgesellschaft (=
Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart
18). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011. 355 S. Besprochen von
Martin Moll.
Christina
Ullrichs 2008 an der Universität Marburg/Lahn
angenommene Dissertation widmet sich den Lebenswegen von 19, überwiegend
zwischen 1909 und 1913 geborenen NS-Tätern aus dem zweiten und dritten Glied in
den westlichen Besatzungszonen bzw. in der Bundesrepublik Deutschland. Der
Autorin geht es weniger um das, was diese Männer als Angehörige der SS, des SD,
der Kripo bzw. von sogenannten Einsatzgruppen in den besetzten Ostgebieten
taten, und mehr darum, wie sich die Integration dieser schwer belasteten Täter
in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft vollzog, was diese
Wiedereingliederung begünstigte oder hemmte. Vorauszuschicken ist, dass allen
untersuchten Personen eine Reintegration, sei es in die Privatwirtschaft oder im
öffentlichen (Polizei-)Dienst, glückte, bis sie ab etwa 1960 von ihrer
Kriegsvergangenheit eingeholt und wegen ihrer zwischen 1939 und 1945 begangenen
Verbrechen verurteilt wurden. Die Aussagekraft der Studie erstreckt sich somit
auf abgeurteilte Täter, nicht jedoch auf jene, gegen die Strafverfahren
eingestellt oder gar nicht eingeleitet wurden. Angestrebt wird eine Verzahnung
individueller Biographien und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Die gelungene
Reintegration vollzog sich in mehreren Phasen. Ullrich unterscheidet die
Transition vom Krieg zum Nachkrieg, die Entnazifizierung sowie die eigentliche
Integration, die mit einem beruflichen Wiedereinstieg einherging. In allen
Etappen strebten die Protagonisten danach, ihre schon formal durch
Zugehörigkeit zur NSDAP und/oder zur SS und Gestapo evidente Belastung durch
exkulpatorische Strategien zu minimieren. Hierbei konnten sie auf die in den
ersten Jahren nach 1945 virulenten Geschichts- und Täterbilder bauen, die am
Trugbild einer sauberen, weil politikfernen Kriminalpolizei festhielten.
Ein
Verdienst dieser Arbeit liegt darin, dass sie nicht erst mit den späteren
Strafverfahren einsetzt, sondern bereits die im Zuge der Entnazifizierung erfolgten
Spruchkammerverfahren der ersten Nachkriegsjahre auswertet. Dies macht Sinn,
denn schon hier legten sich die Täter jene Verteidigungsstrategien zurecht, die
sie ein Jahrzehnt später im Zuge der dann einsetzenden Strafverfahren bemühen
sollten. Aus vielfachen Gründen schlüpften die 19 Protagonisten glimpflich
durch die Entnazifizierung, da diese mehr auf formale Kriterien wie
Organisationszugehörigkeiten abstellte als auf die im Osten verübten Verbrechen.
Kein Wunder, dass nach Abschluss dieser als Entnazifizierungsfabrik
bezeichneten Prozedur etwa die Hälfte des Samples wieder in den Polizeidienst
zurückkehren konnte und dort zum Teil hohe Positionen erreichte; die übrigen
machten in der Privatwirtschaft Karriere, wo erst recht nicht nach ihrem
Vorleben gefragt wurde. Das gesellschaftliche Klima der 1950er Jahre begünstigte
die Wiedereinsteiger. Hinzu kamen ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein und ein
geringes Unrechtsbewusstsein der Täter, von denen nur einer vor der Justiz
flüchtete; einige nahmen eine falsche Identität an, gaben diese Tarnung jedoch
bald auf, was ihnen umso leichter fiel, als sie nach Kriegsende auf eine signifikante
Solidarität aus ihrem familiären, beruflichen und privaten Umfeld rechnen
konnten. Die in den Gerichtsakten aufbewahrten Entlastungszeugnisse (Persilscheine)
legen hiervon beredtes Zeugnis ab. Sie transportierten verbreitete
Werthaltungen, die Ullrich schlüssig nachzeichnet.
Erst am Ende
der 1950er Jahre, bei weit fortgeschrittener Reintegration der Täter ins
Berufsleben, wandelte sich das gesellschaftliche Klima, was vor allem
bedeutete, dass über die NS-Führungsriege hinaus die verbrechensausführenden
Instanzen stärker wahrgenommen wurden. Als die 19 Protagonisten ab etwa 1960 in
den Strudel ausgedehnter Ermittlungen gerieten, mussten die Arbeitgeber
reagieren. Interessant sind die Ausführungen über die Reaktionen auf die
Anfragen der Verfasserin bei den Arbeitgebern; der Bogen spannt sich – sowohl
in der Privatwirtschaft als auch im öffentlichen Dienst – von bereitwilliger
Kooperation bis zur schlichten Ignoranz (S. 22f.). Obwohl die Dienstgeber ihren
vor Gericht gestellten Mitarbeitern positive Zeugnisse ausstellten, bewahrte
dies jene nicht vor einer Verurteilung wegen der im Krieg begangenen Verbrechen.
Wie der Titel des Buches nahelegt, waren Reue und Schuldeinsicht nicht
vorhanden, es dominierte vielmehr eine rigide Abwehrhaltung, gekoppelt mit der
Betonung der Rechtmäßigkeit des einstigen Vorgehens gegen Juden, Partisanen und
die sowjetische Zivilbevölkerung. Die Dokumentenbeweise ließen, anders als noch
in den Spruchkammerverfahren, die Verteidigungsstrategien trotz konspirativer
Absprachen der Beschuldigten ins Leere laufen. Spät aber doch und ungeachtet
ihrer gesellschaftlichen Wiedereingliederung als geachtete Bürger Westdeutschlands
ereilte sie Justitias Spruch.
Der interpretatorische
Reichtum dieser quellengesättigten Studie kann hier nur näherungsweise
wiedergegeben werden. Die Untersuchung verbindet die nach einem plausiblen
Konzept ausgewählten 19 Fallbeispiele und deren umfassend – u. a. in einem
prosopographischen Anhang zu den Tätern – dargestellten Lebensgeschichten mit
politisch-gesellschaftlichen Wandlungen. Die auf eine breite Quellenbasis
gestützten Befunde werden schlüssig und differenziert präsentiert; man mag sich
nur gelegentlich fragen, ob die angeklagten Täter und deren Verteidiger
wirklich so durchgängig an ihre oft hanebüchenen Ausreden glaubten, wie Ullrich
meint, oder ob es sich nicht um bloße Schutzbehauptungen gehandelt hat. Dessen
ungeachtet liefert diese exzellente Studie einen überzeugenden Beitrag zum
Verständnis des politischen Klimas der Jahre zwischen 1945 und 1970.
Graz Martin
Moll