Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation, hg. v. Marxen, Klaus/Werle, Gerhard, Band 7 Gefangenenmisshandlung, Doping und sonstiges DDR-Unrecht, unter Mitarbeit v. Piel, Mario/Schäfter, Petra. De Gruyter, Berlin 2009. LXVIII, 580 S. Besprochen von Thomas Vormbaum.
Die Edition mit den Erträgen des von den Herausgebern betriebenen Forschungsprojekts „Strafjustiz und DDR-Vergangenheit“ wird mit dem hier angezeigten Band abgeschlossen. Er behandelt neben den beiden im Titel genannten Komplexen die Bereiche „Denunziation“ und „sonstige (d. h. in anderen Bänden der Dokumentation noch nicht dargestellte) Wirtschaftsstraftaten“.
Wer das Stichwort Misshandlung von Gefangenen im Strafvollzug vernimmt, denkt (zumindest auch) an Fälle, die in den vergangenen Jahrzehnten die Presse der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt haben – beispielsweise die Misshandlungen von Strafgefangenen im Kölner „Klingelpütz“. Die Frage ist also – und damit ist das „Grundproblem der Fallgruppe“ angesprochen: „Sind diese Misshandlungen“ im Fall der DDR „als systembedingte Kriminalität oder als systemwidrige Exzesstaten von allerdings erschreckender Häufigkeit einzuordnen?“ (S. XXVII) Einen Teil der Antwort gibt bereits die Beschreibung der Organisation der DDR-Strafvollzugseinrichtungen: Sie waren ein Teil der „bewaffneten Organe“ und militärähnlich hierarchisiert (XXIX). Allerdings sah das Strafvollzugsgesetz von 1977 unter seinen Sicherungsmaßnahmen und Disziplinarmaßnahmen die körperliche Züchtigung Gefangener nicht vor. Doch war die Zahl der Misshandlungen so groß, dass der Anteil der betreffenden Verfahren an allen Verfahren wegen DDR-Unrechts immerhin 7,7% (79 Strafverfahren) ausmacht (XXXI).
Eine solide Argumentation hat das Landgericht Potsdam unterbreitet, das feststellen musste, ob die Misshandlungen im Strafvollzug der DDR unter die Bestimmungen über das Ruhen der Verjährung während der Zeit der DDR fielen; dies setzte voraus, dass die Straftaten nach dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen der DDR-Führung aus politischen oder sonst mit wesentlichen Rechtsstaatsgrundsätzen unvereinbaren Gründen nicht geahndet worden sind. In einer umfänglichen Beweisaufnahme hat das Gericht festgestellt, dass Tätlichkeiten von Vollzugsbediensteten gegen Gefangene von Staat und Partei nicht gebilligt, sondern sogar als verwerflich angesehen worden seien, jedoch nach dem Willen der DDR-Regierung die Durchführung von Strafverfahren gegen die betreffenden Vollzugsbediensteten generell und systematisch vermieden worden sei, um das Ansehen des sozialistischen Strafvollzuges zu schützen; insoweit sei die Nichtverfolgung systembedingt (XXXVI) (nach Ansicht des Rezensenten hätte dieses grundsätzliche Urteil die Aufnahme in die Dokumentation verdient gehabt). Damit ist die Frage im Sinne des Verjährungsrechts – und nur sie hatte das Gericht zu beantworten – bejaht. Die umfassende Frage nach der Systembedingtheit dürfte in dieser Gruppe aber wohl nur differenziert zu beantworten sein. Hier wie auch in den folgenden Komplexen wirken natürlich solche prinzipiellen Erwägungen bei der Lektüre der konkreten Urteile und der in ihnen geschilderten teilweise brutalen Misshandlungen blass oder unangemessen; doch ist es Aufgabe des Juristen und Rechtshistorikers, sie anzustellen, auch wenn er sich damit den Vorwurf des Zynismus einhandelt.
Aufsehen in der Öffentlichkeit haben die Strafverfahren wegen Dopings ausgelöst. Jedermann hatte erlebt, wie die DDR seit den 60er Jahren zu einer der Sport-Weltmächte aufgestiegen war, und hatte später erfahren, dass dies neben einer (teilweise bis heute wirksamen) intensiven Talentsichtung (XLIII) auf dem zentral und systematisch organisierten (und ebenso systematisch geheim gehaltenen) Einsatz „unterstützender Mittel“ (XLV) beruhte. Nun ist, wie auch der Bundesgerichtshof festgestellt hat, Doping, und zwar systemübergreifend, leider eine Erscheinung des modernen Hochleistungssports. Doch war das Doping als solches auch nicht Gegenstand der Strafverfolgung von DDR-Taten, sondern die ohne oder mit irreführender Information erfolgende Verabreichung der Dopingmittel, die bei den (häufig minderjährigen) Sportlerinnen schwere und häufig irreversible körperliche und psychische Schäden hervorriefen; rechtlich handelt es sich also hier wie bei den Gefangenenmisshandlungen um Fälle der Körperverletzung. Eine – prinzipiell mögliche – Rechtfertigung durch Einwilligung kam nicht in Betracht, weil die Sportler entweder (als Kinder) nicht einwilligungsfähig waren oder die Einwilligung unter Täuschungseinwirkung abgegeben hatten. Bei der Frage der Verjährung haben die Gerichte hier mit – wie ich finde – noch größerem Recht als bei den Gefangenenmisshandlungen eine systembedingte Nichtverfolgung in der DDR angenommen (XLVI). Die Zahl der eingeleiteten Verfahren war verhältnismäßig gering (48 Angeklagte wurden rechtskräftig verurteilt, davon 15 zu einer Freiheitsstrafe, die durchweg zur Bewährung ausgesetzt wurde).
Ein weiterer Komplex der Dokumentation betrifft die Strafverfahren wegen Denunziationen, von denen hier nicht mehr die (bereits in einem anderen Band behandelten) Fälle in Betracht kamen, die eine Berührung mit dem Ministerium für Staatsicherheit aufwiesen. (L) Von den 13 angeklagten Personen wurden sieben verurteilt, allesamt zu Freiheitsstrafen, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Fälle betrafen überwiegend Anzeigen wegen Fluchtvorhaben; alle Anzeigen hatten Verfahren und Verurteilungen der Angezeigten zu teilweise mehrjährigen Freiheitsstrafen zur Folge (LII). Kompliziert waren die Rechtsanwendungsfragen, weil nach Art. 315 Abs. 4 EGStGB der bundesdeutsche Tatbestand der politischen Verdächtigung (§ 241a StGB) unmittelbar, also nicht erst über § 2 StGB, Anwendung fand, damit aber auch der üblichen Verjährung unterlag, während für die Freiheitsberaubung streitig war, ob, wie bis dahin üblich, der bundesdeutsche Tatbestand oder der entsprechende DDR-Tatbestand anwendbar sei. Die bundesdeutsche Rechtsprechung fand hier eine Lösung, welche die Verjährung ausschloss (LIIIf.).
Bei den Verfahren wegen Wirtschaftsstraftaten handelt es sich neben der Fällen der Nötigung oder Erpressung von Ausreisewilligen vor allem um Fälle von Embargoverstößen nach dem Militärregierungsgesetz Nr. 53 (in Verbindung mit dem deutschen Außenwirtschaftsgesetz). In der Öffentlichkeit wurden besonders die Verfahren gegen den Staatssekretär im Ministerium für Außenhandel und Leiter des Bereichs Kommerzielle Koordinierung (KoKo) Alexander Schalck-Golodkowski, wahrgenommen. Zentrales rechtliches Problems war insoweit, dass das MRG Nr. 53 mit der Wiedervereinigung außer Kraft getreten war, eine Verurteilung also nur noch möglich war, wenn es sich bei diesem Gesetz um ein Zeitgesetz i. S. d. § 2 Abs. 4 handelte, also um ein Gesetz, das von vornherein nur für eine bestimmte Zeit gelten soll. Dass die deutsche Strafjustiz diese Eigenschaft bei einem über 40 Jahre geltenden Gesetz bejaht hat (LXI), erscheint problematisch.
Die Einleitung der Herausgeber ist wie schon bei allen vorher gehenden Bänden knapp, aber informativ und fasst die wesentlichen Probleme mit zahlreichen Hinweisen aus Rechtsprechung und Literatur zusammen. Im Anhang enthält auch dieser Band eine Dokumentation der einschlägigen Normtexte, welche die Benutzung entscheidend erleichtert.
Wie schon manche andere Bände
der Dokumentation konnte auch dieser Band davon profitieren, dass einer der
Mitarbeiter, Mario Piel, seine Arbeit an diesem Werk mit einer
einschlägigen Dissertation verbinden konnte. Eine von ihm verfasste Dissertation
zum Thema Strafverfahren wegen DDR-Dopings wird in einer Anmerkung angekündigt.
Auf die von den Herausgeber in
einer schmalen, im Eigenverlag erschienenen Broschüre mit der statistischen
Bilanz ihres Forschungsprojekts wurde bereits in der Besprechung eines der
vorigen Bände hingewiesen[1].
Mit dem Abschluss einer solch umfangreichen Edition, die der Rezensent
über eine Reihe von Jahren begleitet hat[2],
stellt sich die Frage nach einer endgültigen Bewertung. Diese fällt positiv
aus. Die Herausgeber haben die schwierige Aufgabe, eine einerseits
repräsentative, andererseits die wichtigen Sach- und Rechtsprobleme angemessen
berücksichtigende Auswahl von Dokumenten zu treffen, trefflich gemeistert. Die
Skepsis, die der Rezensent bei seiner Besprechung des zuerst erschienenen
Bandes hinsichtlich der Möglichkeit, Strafurteile als Quellen historischer
Erkenntnis zu nutzen, geäußert hat, sind zwar unabhängig von dieser
Einschätzung geblieben; sie sind jedoch grundsätzlicher – man kann auch sagen:
theoretischer – Art und schließen selbstverständlich den Wert im Einzelfall
nicht aus. Und solcher Einzelfälle bietet die Edition eine Menge. Man muss den
Herausgebern, ihren Mitarbeitern und dem Verlag Dank dafür sagen, dass sie
dieses Unternehmen auf sich genommen und über Jahre hinweg zu einem guten Ende
geführt haben.
Hagen/Westf. Thomas
Vormbaum
[1]
Marxen, Klaus/Werle,
Gerhard/Schäfter, Petra, Die Strafverfolgung von DDR-Unrecht. Fakten und
Zahlen. Institut für Kriminalwissenschaften der Humboldt-Universität, Berlin,
und Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Dikatur, Berlin, 2007.
[2] Vgl. die Besprechung von Bd. 1 in ZRG GA119 (2002), Bd.
2 und 3 ZRG GA 122 (2005), Bd. 4 ZRG GA 124 (2007), Bd. 5 ZRG GA 127 (2010).