Stadelmann-Wenz, Elke,
Widerständiges Verhalten und Herrschaftspraxis in der DDR. Vom Mauerbau bis zum
Ende der Ulbricht-Ära (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart).
Schöningh, Paderborn 2009. 265 S. Besprochen von Wolfgang Pöggeler.
In dieser fakten- und kenntnisreichen Darstellung
geht es um die DDR der 1960er Jahre, oder wie es im Untertitel heißt, um die
Zeit vom Mauerbau bis zum Ende der Ära Ulbricht. Der zentrale methodische
Ansatz ist das Konzept des „widerständigen Verhaltens“. Es kommt nicht aus dem
Nichts, sondern knüpft an bereits bekannte Überlegungen an. Die Berliner
Historikerin Elke Stadelmann-Wenz schärft und erarbeitet ihr Konzept an den
Überlegungen von Martin Broszat, Hubertus Knabe, Arnd Bauerkämper, Detlef
Peukert, Ehrhart Neubert, Peter Hüttenberger und Ilko-Sascha Kowalczuk. Sie
definiert widerständiges Verhalten als Handlungs- und Verhaltensweisen, die im
Widerspruch zum Herrschaftsanspruch des SED-Regimes standen und zu Konflikten mit
diesem Regime führten. Stadelmann-Wenz misst den Beherrschten in der DDR
„Ressourcen“ zu, die ihnen aktives Handeln ermöglichten. - Die meisten
herangezogenen Quellen sind solche des Partei- und Staatsapparats. Diese
politisch einseitig gefärbten Materialien erfahren das notwendige Korrektiv
durch das Heranziehen biographischer Werke von Opfern des Regimes, vor allem
aber durch die besondere Aufmerksamkeit, welche die Autorin bei der
Interpretation der so genannten Herrschaftsquellen walten lässt.
Die vielfältigen Erscheinungen des
widerständigen Verhaltens in eine sinnvolle und ansprechende Ordnung zu
bringen, ist keine einfache Aufgabe. Stadelmann-Wenz entscheidet sich auf der
ersten Ordnungsebene für eine Dreiteilung. Und so lauten die drei Kapitel des
Buches: 1. zentrale mobilisierende Ereignisse, 2. zentrale Konfliktfelder und 3.
die politische Strafjustiz. – Zu den mobilisierende Ereignissen gehören der Bau
der Mauer 1961, die Einführung der Wehrpflicht 1962 und der Prager Frühling
1968.
Zentrale Konfliktfelder beziehen sich auf die
Gebiete der Wirtschafts- und Sozialpolitik, beispielsweise geht es um
Versorgungsprobleme und unterschiedlich motivierte Arbeitsniederlegungen.
Darüber hinaus spielte offensichtlich das Verhältnis von Staat und Partei zur
Jugend eine herausragende Rolle, denn die tatsächliche Jugendkultur wollte sich
partout nicht an den ideologischen Vorstellungen und Vorschriften der
SED-Oberen ausrichten. Hier erscheint die immerwährende Reibung der
Heranwachsenden und jungen Erwachsenen mit der Generation der Eltern und
Großeltern in ihrer sozialistischen Variante. Und es ist nicht frei von
absurden Momenten, wenn der alternde Walter Ulbricht und seine Weggefährten den
Kampf gegen Beatmusik, Rowdys, Gammler, Jeanshosen und Langhaarige aufnehmen.
Die politische Strafjustiz war Lichtjahre
entfernt von der abendländischen Rechtsidee der Trennung von Judikative und
Exekutive, da hier der Einfluss der Partei oder des Ministeriums für
Staatssicherheit noch deutlicher war als in allen anderen Zweigen der
DDR-Justiz. In diesen Kontext passt auch die physische und psychische Gewalt,
die politische Gefangene regelmäßig in den Haftanstalten ertragen mussten,
genauso wie der Handel mit politischen Häftlingen. Diese Praxis begann bereits 1963.
Als sie 1989 endete waren 31.755 Personen für insgesamt etwa 2,5 Milliarden DM
von der Bundesregierung freigekauft worden.
Stadelmann-Wenz definiert das Ziel ihrer Studie
darin, die Ergebnisse der bisherigen Forschung zu widerständigem Verhalten in
der DDR der sechziger Jahre zu bündeln, mit Hilfe weiterer Quellenarbeit zu
ergänzen und neu zu gewichten. Das ist ihr gelungen. Die Darstellung, die unter
der Ägide von Heinrich Volkmann und Arnd Bauerkämper als Dissertation an der
Freien Universität angefertigt wurde, enthält eine ganze Reihe von Anstößen,
die Ansätze für weitere historische Forschungen böten.
So erscheinen Staat und Partei keineswegs stets
als widerspruchslose Gebilde. Beispielsweise berichtet Stadelmann-Wenz von
einem SED-Mitglied in Karl-Marx-Stadt, das 1961 offen aussprach, was die
meisten Menschen in der DDR dachten, dass nämlich die Mauer nicht zum Schutz
vor dem kapitalistischen Klassenfeind gebaut worden sei, sondern vielmehr um
den Wegzug in den Westen zu verhindern. Eine Mitgliederversammlung der
Parteigruppe unterstützte diesen Einzelnen sogar, anstatt ihn zu
disziplinieren. Erst die daraufhin tätig gewordene
Kreisparteikontrollkommission schloss ihn aus der SED aus. - Darüber hinaus
berichtet Stadelmann- Wenz auch über unterschiedliche jugendpolitische
Meinungen innerhalb der SED. Per Saldo wird aber kein besonderes Gewicht darauf
gelegt, die verschiedenen Facetten der Partei- und Funktionärswelt zu
beleuchten. Das scheint auf den ersten Blick nachvollziehbar, wenn man die
Unterordnung der mittleren und unteren Parteigremien unter die Vorgaben der
Führungsebene bedenkt. Auf einen zweiten Blick scheint es jedoch nicht abwegig,
auch über nicht linientreue Positionen und Menschen in Staat und Partei zu
forschen, um beispielsweise die Bedingungen der friedlichen Revolution 1989
vollständiger zu beleuchten.
Partiell ungeschrieben ist die SED-Herrschaft
über die Menschen in der DDR aus der biopolitischen Perspektive: gesundheitliche
Folgen von Umwelt- und Arbeitsbedingungen, Eingriffe in das Leben und die
körperliche Integrität von Republikflüchtigen, Wehrpflichtigen, Bausoldaten, Einschränkungen
der körperlichen Bewegungsfreiheit im Großen (Reisefreiheit) wie im Kleinen
(Haftbedingungen). Eine biopolitische Fragestellung wäre freilich nicht auf die
1960er Jahre beschränkbar.
Die Lektüre des Buches zeigt eine beachtliche
Vielfalt, Häufigkeit und Kontinuität widerständigen Verhaltens. Dies ist
besonders erstaunlich, weil die Risiken widerständigen Verhaltens in der DDR
hoch waren und für den Bürger kaum kalkulierbar. Allein mit dem Mao-Zitat „Wo
Unterdrückung ist, da ist auch Widerstand“, ließe sich dieses Phänomen nicht
erklären. Reizvoll scheint daher nach wie vor die weitere Erforschung der
Wechselwirkung von obrigkeitlichem Handeln und widerständigem Verhalten in der
SED-Diktatur.- In mindestens einem Fall ist übrigens eine Wirkungskette
zustande gekommen, welche die SED nie und nimmer gewollt haben konnte: Die
Wiedereinführung der Wehrpflicht führte zum Phänomen der Verweigerung und der
Bausoldaten. Und aus diesem Milieu, unterstützt durch die evangelische Kirche,
stammten maßgebliche Akteure der friedlichen Revolution 1989. So sägte die SED
schon in den 1960er Jahre an dem Ast, auf dem sie saß.
Für die rechtshistorische und historische
Forschung über die DDR der 1960er Jahre ist die Arbeit von Stadelmann-Wenz
anregend und hilfreich. Sie gehört in jede Bibliothek zur DDR-Geschichte.
Berlin und Nemesnádudvar Wolfgang
Pöggeler