Speck, Dieter, Kleine Geschichte Vorderösterreichs (= Regionalgeschichte - fundiert und kompakt). DRW-Verlag Weinbrenner GmbH & Co. KG/Braun, Leinfelden/Echterdingen/Karlsruhe 2010. 251 S., zahlr. Abb., Zeittaf., 5 Stammtaf. Besprochen von Clausdieter Schott.

 

„Vorderösterreich“ ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit den politischen Umwälzungen im deutschen Südwesten von der Landkarte verschwunden. Die aus der napoleonischen Neuordnung hervorgegangenen Nachfolgestaaten, insbesondere das Großherzogtum Baden und die Königreiche Württemberg und Bayern, zeigten sich wenig interessiert, die historische Erinnerung an eine Jahrhunderte lange Vergangenheit weiter im Bewusstsein zu erhalten, zumal die annektierten Gebiete aus ihrer Anhänglichkeit an Habsburg zunächst kein Hehl machten. Geblieben sind indessen sichtbare Reminiszenzen in Form von österreichischen Emblemen, etwa Wappen an historischen Gebäuden oder Grenzsteinen, sowie entsprechenden Gemeinde- und Kreiswappen oder Siegeln. Nicht zuletzt pflegt die Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg im Breisgau ihre altösterreichische Vergangenheit sowohl in ihrem Namen wie auch bildlich in den Insignien und Siegeln. Noch 1962 hat die Rechtswissenschaftliche Fakultät mit der Wiederaufnahme ihres älteren Siegels die badischen Wappen gegen Bindenschild und Adlerwappen eingetauscht. Inzwischen wird auch in Ausstellungen und Museen versucht, das Andenken an das „Ancien Régime“ wieder zu beleben. Als Beispiel sei die Stadt Endingen am Kaiserstuhl erwähnt, wo 1994 ein eigenes „Vorderösterreich-Museum“ eingerichtet wurde.

 

Als politisches Gebilde war Vorderösterreich in seinem jeweiligen Bestand ein Konglomerat von Besitzeinheiten und Gebieten verschiedenster Rechtstitel, für welche die Dynastie der Habsburger eine Klammer bildete. Gerade diese komplexe Zusammensetzung und die Verflechtung mit dem Herrscherhaus machen es schwer, die österreichischen Vorlande in ihren Kontinuitäten und Metamorphosen zu beschreiben. Es scheint leichter zu sein, Vorderösterreich in einem Bildband zu präsentieren als eine kohärente historische Darstellung zu konzipieren. Erstmals versucht hat sich darin 1790 Franz Sales Kreutter, Konventuale des unter österreichischer Oberhoheit stehenden „Fürstlichen Reichsstifts St. Blasien im Schwarzwald“ mit seiner „Geschichte der k. k. vorderösterreichischen Staaten“, einem zweibändigen Werk, das neuerdings als Nachdruck wieder aufgelegt wurde (Freiburg 2000, in vier Bänden). Kreutters Landesbeschreibung und Bestandsaufnahme lautet folgendermaßen: „Die K. K. Lande, deren Geschichte wir auszuarbeiten übernommen haben, tragen den Namen Vorderösterreich, weil sie nicht nur von allen übrigen Österreichischen Staaten ganz abgesöndert, sondern auch vor allen denselben westwerts liegen. Die Haupttheile des Vorderösterreichs sind 1) die Landgrafschaft Breisgau, 2) das österreichische Fürstenthum in Schwaben, 3) die Vorarlbergischen Herrschaften. Obschon diese Staaten und Fürstenthümer keinen genauen Zusammenhang auf unserm Erdballe haben, kann man doch mit guter Zuverlässigkeit sagen, dass ihre ganze obere Fläche beynahe 156 Quadratmeilen in sich begreife. […] Alle Vorderösterreichische Staaten aber zählen 44 Städte, 34 Marktflecken, 1017 ½ Dörfer, 359596 christliche Seelen nebst 1422 Hebräern“ (S. IX f., LXIV). Es war dies aber bereits ein geschrumpftes Territorium, das die im 15. Jahrhundert an die Eidgenossen verlorenen und die im 17. Jahrhundert an Frankreich abgetretenen Stammlande nicht mehr enthielt.

 

Nunmehr ist von berufener Seite ein neuer Anlauf genommen worden. Der Verfasser, Leiter des Universitätsarchivs Freiburg und Professor daselbst, ist schon früher durch zahlreiche Publikationen zur Verfassungsgeschichte des habsburgischen Südwestens hervorgetreten, die er sich in dieser zusammenfassenden Darstellung zunutze machen kann. Das Ergebnis ist eine der habsburgischen Hauspolitik entsprechende wechselvolle Geschichte, die, etwa ein Jahrtausend überspannend, mit den elsässischen und aargauischen Herkunftsländern einsetzt und mit dem völligen Rückzug aus dem Südwesten im 19. Jahrhundert endet. In der Form „Havichsberg“ taucht erstmals 1108 der Name des Grafengeschlechts auf, den dieses auch nach seinem Aufstieg zur europäischen Dynastie weiterführen sollte. Nach den Erbteilungen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gehörten die Westgebiete zu den so genannten oberösterreichischen Landen, die später in innere, d. h. die Grafschaft Tirol, und vordere, d. h. die Gebiete westlich des Arlbergs unterschieden wurden. Verwaltungszentrum war Innsbruck, was nicht hinderte, dass die Vorlande eine gewisse Eigenständigkeit entwickelten. Nach dem Verlust des Aargaus verlagerte sich der Schwerpunkt auf das Elsass und den Breisgau, wo der rührige und hier zeitweise residierende Herzog Albrecht VI. in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zukunftsweisende Strukturen schuf. „Gründung der Universität, Landstände und Verwaltungsentwicklung führten zu einer enormen Herrschaftsverdichtung und Weiterentwicklung in den vorderösterreichischen Landen“ (S. 86). Der Westfälische Friede von 1648 brachte für die Vorlande jedoch wiederum einschneidende Gebietsverluste und Veränderungen. Das Verwaltungszentrum wurde vom elsässischen Ensisheim nach Freiburg im Breisgau verlegt. Als 1665 schließlich die Tiroler Linie der Habsburger erlosch und Vorderösterreich an Wien angebunden wurde, war für die überdies von Kriegen geschundenen Gebiete der Weg in die Bedeutungslosigkeit einer Randlage eingeleitet. Frischer Wind kam zwar nochmals unter Maria Theresia und Joseph II. auf, jedoch mit dem Friede von Pressburg (1805) war das Schicksal der Vorlande endgültig besiegelt.

 

Der Verfasser behandelt die komplexe Materie nach Zeitabschnitten, denen er folgende Themen zuordnet: Die frühen Habsburger im Elsass und im Aargau – Habsburgisches Königtum und Herrschaft Österreich (1273-1358) –  Ambitionen, Visionen und Katastrophen (1358-1415) – Formierung der vorderen Lande (1415-1490) – Kaiser und vorderösterreichische Lande (1490-1564) – Die Zeit der Tiroler Linie (1565-1665) – Kriege und Provinzialität (1651-1753) – Reformen und Neuschöpfung (1753-1790) – Ende und Illusionen (1790-1815). Zahlreiche Abbildungen und Karten veranschaulichen den Text. Hilfreich sind eine Zeittafel und Stammtafeln. Man hätte sich darüber hinaus noch Personen-, Orts- und Sachregister gewünscht. Einer der besten Kenner der verwickelten südwestdeutschen Landesgeschichte, Karl Siegfried Bader, hat einmal festgestellt: „Die Entstehung und Entwicklung der österreichischen Territorialbildungen in Schwaben und am Oberrhein ist und bleibt das Herzstück des deutschen Südwestens. Diese Rolle ist den Oberen und Vorderen Landen in der politischen und landesgeschichtlichen Literatur mit Unrecht vorenthalten worden“ (Der deutsche Südwesten in seiner territorialstaatlichen Entwicklung, 1950, Nachdruck 1978). Mit Specks Buch kann nun das Urteil günstiger ausfallen.

 

Zumikon und Zürich                                                                            Clausdieter Schott