Sohoudé, Kuessi Marius, Rechtsstaatlichkeit und Verantwortlichkeit bei Heinrich von Kleist (= Studien zur deutschen und europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts 65). Lang, Frankfurt am Main 2010 217 S. Besprochen von Heinz Müller-Dietz.

 

Leben und Werk des preußischen Dichters und Publizisten Heinrich von Kleist (1777-1811) sind sowohl unter literatur- als auch rechtswissenschaftlichen Vorzeichen fast in jeder Hinsicht und Richtung analysiert worden. Große Beachtung haben aus guten Gründen nicht zuletzt die vielfältigen rechtlichen Aspekte seiner literarischen Arbeiten gefunden. Deutlich geworden sind dabei vor allem drei grundlegende Topoi seines Selbstverständnisses und Wirkens: sein ausgeprägter Sinn für eine gerechte Gestaltung menschlichen Zusammenlebens, die Einbettung seiner Texte in ihre rechts- und zeitgeschichtlichen Zusammenhänge und die zutiefst empfundene Problematik, Gerechtigkeit in der „gebrechlichen Einrichtung der Welt“ zu verwirklichen.

 

Die vorliegende Studie, eine literaturwissenschaftliche Mainzer Dissertation (2009), hat es sich zum Ziel gesetzt, aus Kleists Werk genuin rechtsstaatliche Elemente im heutigen Verständnis herauszupräparieren, die vor allem Gesetzesbindung, Rechtssicherheit, Unabhängigkeit der Gerichte, Rechtsschutz und insgesamt Respektierung der Menschenwürde zum Gegenstand und zur Grundlage haben. Sie ist zwar aus der Perspektive des Literaturwissenschaftlers geschrieben, der sich jedoch in einschlägige juristische Aspekte in vertiefter Weise eingearbeitet hat. Das gilt sowohl für die von ihm herangezogenen rechtswissenschaftlichen Analysen als auch für die maßgebenden Schriften der zeitgenössischen Staatslehre. Kuessi Marius Sohoudé versteht seine Untersuchung als Beitrag zur entwicklungsgeschichtlichen Debatte, bei der es um „Aneignung“ oder „Fruchtbarmachung“ des „Fremden“ durch die Germanistik zum näheren Verständnis der Entstehungsgeschichte des Rechtsstaats in Deutschland geht (14f.).

 

Der Verfasser veranschaulicht sein Thema an Kleists Darstellungen zweier Gruppen von Amtsträgern, die besonderen Einfluss auf die rechtliche Gestaltung staatlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse ausübten: am Verhalten von Staatsoberhäuptern und Amtsinhabern sowie an Juristen, die an mehr oder minder herausragender Stelle das jeweils geltende Recht anzuwenden hatten. Die zweite Gruppe rekrutiert sich namentlich, wenn auch keineswegs allein, aus Richtern und Anwälten. Seiner Untersuchung hat der Verfasser die Novellen „Michael Kohlhaas“ und „Der Zweikampf“ sowie das Drama „Der Prinz von Homburg“ und die Justizkomödie „Der zerbrochne Krug“ zugrundegelegt.

 

Die Studie ist in drei Teile gegliedert, auf die sich insgesamt sieben Kapitel verteilen. Der erste Teil, der zwei Kapitel umfasst, gibt einen Überblick über den Zustand und die Entwicklung des Rechtsstaats in deutschen Territorien um 1800. Er skizziert im ersten Kapitel das zeitgenössische Ringen um eine rechtsstaatliche Ausgestaltung der Lebensverhältnisse, die namentlich bei den Bauern im Argen lagen. Dabei schenkt der Verfasser vor allem der Situation in Preußen seine Aufmerksamkeit. Ob und inwieweit Rechtsreformen Bürgern zugute kamen, hing nicht nur von der Qualität der Gesetze und entsprechender Bereitschaft und Fähigkeit der Beamten und Justizpersonen, sondern insbesondere von der Persönlichkeit des Herrschers ab (25). Der Verfasser verweist namentlich auf den Beitrag der Gelehrten, die für rechtsstaatliche Prinzipien eintraten, aber auch auf den Gesetzesgehorsam, den die Bürger schuldeten. Auf Kant stützt er die im aufgeklärten Absolutismus herrschende Lehre von der Immunität des Staatsoberhaupts (30ff.). In dem Maße, in dem liberale Vorstellungen Eingang in die Staatslehre fanden, wurde auch die Unabhängigkeit der Gesetze von individuellen Einflüssen postuliert (32ff.). Denkfreiheit, Selbstbestimmung (im Sinne Kants) und Freizügigkeit standen auf der Liste der Reformforderungen. Die Verfassung wurde als „Garant für den Rechtsstaat“ beschworen (37ff.), die Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit (41ff.) als wichtiges Element dieses Prozesses begriffen.

 

Im zweiten, kürzeren Kapitel geht Sohoudé auf das Leben und Wirken des Dichters ein (47ff.). Dabei rückt er vor allem seine Herkunft, sein rechtsreformerisches Eintreten für Denkfreiheit und Freizügigkeit im Sinne der Aufklärung und des Frühliberalismus sowie sein Verhältnis zur bürgerlichen Öffentlichkeit ins Zentrum der Betrachtung. Dass er Kleist als „Dichterjuristen“ charakterisiert, verdient gewiss Zustimmung. Doch rekurriert er insoweit auf den Literaturwissenschaftler Ziolkowski und nicht auf den Rechtswissenschaftler Wohlhaupter, der ja in seinem Werk über „Dichterjuristen“ (1953, Bd. I, D. 467) außer „Michael Kohlhaas“ und dem „Prinzen von Homburg“ auch Anekdoten und Erzählungen Beachtung geschenkt hat, die unter juristischen Aspekten eher vernachlässigt worden sind (506ff.).

 

Der Versuch Kleists kommt zur Sprache, seinen beruflichen Ort im gesellschaftlichen Leben zu finden, namentlich seine Schwierigkeiten, als Adliger „der etablierten ständischen Organisation der Gesellschaft zu entgehen“ (52). Danach nahm der Schriftsteller aktiv an der gesellschaftlichen Entwicklung seiner Zeit teil und zeigte sich bestens über sie informiert. So war er etwa Mitglied der patriotischen „Christlich-deutschen Tischgesellschaft“ von Arnims, der auch sein Freund Adam Müller angehörte (56). Als Herausgeber der „Berliner Abendblätter“ – die für ihn gewiss eine vorzügliche journalistische Schule, aber eben auch eine literarische bedeutete – lernte er die Problematik der Zensur kennen (57). Auch deshalb schlug er den literarischen Weg ein, um für seine Ideen über Reformen und Geistesfreiheit öffentlich werben zu können.

 

Der zweite Teil hat das Verhalten der Staatsoberhäupter, wie es in „Michael Kohlhaas“, im „Zweikampf“ und im „Prinzen von Homburg“ geschildert wird, zum Gegenstand. Zunächst kommt im dritten Kapitel – das „Michael Kohlhaas“ thematisiert – die Rolle des Junkers Wenzel von Tronka und des sächsischen Kurfürsten im Verhältnis zu ihren Untergebenen zur Sprache. Dann werden rechtliche Verantwortung und Verantwortlichkeit des sächsischen und des brandenburgischen Kurfürsten sowie des Kaisers untersucht. Der Verfasser macht in seiner – wie stets – textnahen Interpretation deutlich, dass Kohlhaas sich vornehmlich gegen das unverantwortliche Vorgehen des Junkers wendet, der offensichtlich sich und seine Leute nicht unter Kontrolle hat. Demnach ist an den schwerwiegenden Folgen des Versagens von Wenzel abzulesen, „wie gefährlich und zerstörerisch die Fahrlässigkeit in der Führung eines jeden Amtes“ sich nicht nur auf die unmittelbar Betroffenen, sondern auch auf Staat und Gesellschaft auswirken kann (68).

 

Der sächsische Kurfürst, der nach dem Scheitern des wittenbergischen Stadtvogts zunächst einmal recht entschieden wirkt, bleibt letztlich gleichfalls das ihm nach seiner Stellung als Landesherr und dem geltenden Recht obliegende Verhalten schuldig. Dass er dem Stadtvogt durch tatkräftiges Handeln seine Unzufriedenheit beweist, aber dem ihm freundschaftlich verbundenen Kämmerer freie Hand lässt, demonstriert Sohoudé zufolge eine zwiespältige – und damit unverantwortliche – Haltung. Demgegenüber verhält sich der Kurfürst von Brandenburg ganz anders: Er ersetzt nach pflichtschuldiger Anhörung des Schuldigen den korrupten Großkanzler durch einen fähigen und geeigneten Beamten der Lokalverwaltung und schafft damit die Voraussetzungen für eine Gewährung des gesetzlich gebotenen Rechtsschutzes. Insoweit verleiht er „seinem monarchischen Land und dem Reich das Bild eines Rechtsstaates, der nicht nach willkürlichen Regeln, sondern nach den geltenden Gesetzen handelt“ (87). Die gleiche verantwortliche Haltung spiegelt sich im Verhalten des Kaisers wider, der mit unmissverständlicher Festigkeit zum Ausdruck bringt, dass die Sache Kohlhaas ihren gesetzmäßigen Verlauf nehmen müsse (88f.).

 

Im vierten Kapitel arbeitet Sohoudé einmal mehr die Verantwortung des Landesoberhaupts für die Gewährleistung von Rechtspflege und Rechtssicherheit heraus, wie sie im „Zweikampf“ – der an Irrungen und Wirrungen reichen Novelle - und im „Prinzen von Homburg“ entfaltet wird (91ff.). In der Erzählung stehen einerseits die Regentin und ihr Kanzler, andererseits der Kaiser im Zentrum der Betrachtung. Die Herzogin Katharina von Heersbruck, die nach der Ermordung ihres Gatten, des Herzogs Wilhelm von Breysach, den minderjährigen Sohn vertritt, befindet sich in einer zwiespältigen Rolle: Auf der einen Seite ist sie als Regentin verpflichtet, den Mordfall aufklären zu lassen – dies umso mehr, als ihr Schwager, Graf Jacob der Rotbart, aus naheliegenden Gründen unter Mordverdacht steht. Auf der anderen Seite ist sie als Witwe Partei. Aus dieser Zwickmühle hätte sie dadurch herausfinden können, dass sie ein Gericht mit der Klärung der Sache betraut hätte. Stattdessen lehnt die Herzogin, von der Unschuld des Grafen überzeugt, ein Gerichtsverfahren ab. Auch will Jacob seine angebliche Unschuld vor Gericht beweisen. Immerhin zeigt der Kanzler der Regentin schließlich den Weg auf, die Sache dem Kaiser zur Entscheidung vorzulegen (93).

 

Vor dem vom Kaiser in Basel einberufenen Tribunal beteuert der Graf denn auch seine Unschuld. Er wisse nicht, wie der Mörder in den Besitz des tödlichen Pfeils gelangt sei; er selbst will die Mordnacht bei der unbescholtenen, verwitweten Littegarde von Auerstein verbracht haben. Jedoch kann die adlige Dame ihre Unschuld nicht beweisen, weil ihre Zofe Rosalie in dieser Nacht nicht im Schloss geweilt hat. In ihrer Not bittet sie ihren Freund, den Kämmerer Friedrich von Trota, um Unterstützung; es gelingt ihr, ihn als Rechtsbeistand zu gewinnen. Vor Gericht verteidigt er Littegarde und beschuldigt Jacob der Verleumdung; er wirft ihm schließlich den Fehdehandschuh zu.

 

Daraufhin ordnet der Kaiser zur Klärung der Sache einen Zweikampf an, den Jacob dem äußeren Anschein nach gewinnt, indem er dem zufällig stürzenden Friedrich das Schwert in die Seite stößt. Littegarde und Friedrich werden ins Gefängnis geworfen. Sie sollen den Tod in den Flammen erleiden. Doch ist der um Gerechtigkeit bemühte Kaiser durch das „Gottesurteil“ zugunsten Jacobs von dessen Umschuld keineswegs überzeugt. Er schiebt deshalb die Vollstreckung des Urteils an Littegarde und Friedrich hinaus. Wider Erwarten heilen jedoch Friedrichs Wunden, während Jacob auf Grund einer an sich unbedeutenden Handverletzung, die sich jedoch zu einem bösartigen Geschwulst auswächst, dem Tod entgegensieht. Auf dem Sterbebett gesteht Jacob, den Mörder seines Schwagers gedungen zu haben. In der Nacht war er dem Irrtum zum Opfer gefallen, Littegarde beigewohnt zu haben; in Wahrheit ist die verschleierte Dame Rosalie gewesen. Nachdem das „Gottesurteil“ letztlich doch zugunsten Friedrichs ausgefallen ist, befindet der Kaiser ihn und Littegarde für unschuldig (96). Freilich verdeutlicht das ganze Geschehen im Grunde die Unmöglichkeit für das Gericht und den Kaiser, mit dem Mittel des Zweikampfs die Wahrheit ans Tageslicht zu befördern und auf dieser Grundlage Gerechtigkeit herzustellen (97).

 

Das Drama „Der Prinz von Homburg“, das im militärischen Bereich angesiedelt ist, steht im Kontext des Verhältnisses von Recht und Gnade. Durch seine Missachtung des Befehls verstößt der Prinz gegen das Kriegsrecht, das von ihm absoluten Gehorsam erheischt. Zur Rechtspflicht des brandenburgischen Kurfürsten gehört es, den Prinzen deshalb zur Rechenschaft zu ziehen und dessen Vergehen zu ahnden. In der Tat lässt er sich durch den militärischen Erfolg des Prinzen nicht dazu verleiten, vom Gesetz abzuweichen. Er will auch von seinem Gnadenrecht zur Wahrung der militärischen Disziplin keinen Gebrauch machen. Doch stößt sein Bemühen, dem Recht durch Vollstreckung des gegen den Prinzen erkannten Todesurteils Genüge zu tun, auf Enttäuschung und Widerspruch in seiner eigenen Familie und in der Armee (101ff.). Schließlich beugt er sich aber der Argumentation des Obristen Kottwitz, den Prinzen zu begnadigen, wenn dieser die Rechtmäßigkeit des Todesurteils anerkennt. Kottwitz rechtfertigt den Ungehorsam des Prinzen mit der militärischen Situation, die dessen Eigeninitiative erfordert habe (111f.) und erinnert an die „menschliche“ Seite des Falles (113ff.). Indem der Kurfürst den Prinzen nach öffentlicher Anerkennung des Urteils begnadigt, garantiert er dem Verfasser zufolge die gesetzliche Grundlage „seiner Macht und seines Staates“, festigt er „rechtsstaatliche Prinzipien“ und vermeidet durch die Begnadigung „gleichzeitig negative Folgen negative Folgen einer allzu starren gesetzlichen Ordnung“ (116). Das Drama kann auch als aufschlussreicher Beitrag zum Verständnis und zur Handhabung des Rechtsinstituts der Gnade verstanden werden – auch wenn es damals nicht als solches gesehen wurde.

 

Im dritten Teil kommt das Verhalten des Justizpersonals gegenüber Recht und Gesetz im Lichte Kleist’scher Darstellungen zur Sprache. Grundlage der Analyse bilden „Der zerbrochne Krug“ sowie „Michael Kohlhaas“ und „Der Zweikampf“. Zunächst untersucht der Verfasser im fünften Kapitel die Handlungsweisen des Richters Adam (121ff.), des Gerichtsrats Walter (131ff.) und des Gerichtsschreibers Licht (151ff.). Mit Hans Peter Schneider erblickt Sohoudé im Verfahren Adams nicht nur einen Missbrauch seines richterlichen Amtes und den Versuch, den Prozess wegen des „zerbrochenen Kruges“ zu seinen Gunsten zu instrumentalisieren, sondern auch ein eindrucksvolles Exempel für „den Verfall des Gerichtswesens und der Moral seiner Repräsentanten“. Doch vermag er angesichts der massiven Verfehlungen Adams dessen Verhalten nicht als bloßen Ausdruck „menschlicher Schwäche“ abzutun (129).

 

Den Gerichtsrat sieht der Verfasser in der doppelten Rolle des Kontrolleurs der Registratur und der Kasse sowie des gerichtlichen Verfahrens. Das Schwergewicht der Darstellung Kleists liegt fraglos auf dem zweiten Aspekt. Das veranschaulicht die Kritik Walters an Adams Versuch, statt auf die landesweit geltenden Gesetze auf alten Rechtsbrauch zu rekurrieren (134ff.) und an Adams parteiischem Verhalten (136ff.) sowie an seinem Eintreten für die von Adam missbrauchte Autorität und Würde des Gerichts (141ff.) und für die Wiederherstellung des durch Adam zerstörten Vertrauens in die Objektivität und Gerechtigkeit der Justiz (147 ff.). Insofern weist der Verfasser dem Gerichtsrat durchaus die Rolle eines rechtsstaatlich gesinnten Wahrers der Gesetze zu – die ja in der Sekundärliteratur teilweise anders gesehen wird.

 

Das Auftreten des Gerichtsschreibers ist nach Sohoudé zunächst einmal durch seine Loyalität gegenüber dem ihm übergeordneten Dorfrichter gekennzeichnet. Da ist er, weil er auf Grund früherer, Adam bekannter Verfehlungen erpressbar geworden ist, in einer Art kritischem Gehorsam bemüht, den Richter zu einer gesetzmäßigen Prozessführung zu veranlassen (152ff.). Doch dann trägt er maßgeblich dazu bei, den wahren Sachverhalt ans Tageslicht zu bringen, also Adam als den Schuldigen zu entlarven (155ff.). Der Verfasser sieht ihn in dieser Funktion gleichsam in der Rolle eines Zeugen nach altem Recht (160).

 

Das sechste Kapitel hat das Verhalten der Präsidenten des sächsischen Tribunals, des Grafen Wrede und seines Nachfolgers, des Grafen Kallheim, des für die Sicherheit Sachsens verantwortlichen Prinzen Christiern von Meißen, der Dresdner Anwälte und des brandenburgischen Anwalts von Kohlhaas sowie die kaiserlichen Rechtsanklägers zum Gegenstand. Der Präsident des sächsischen Tribunals – das ja kein unabhängiges Gericht im heutigen Verständnis verkörpert – erweist sich für den Verfasser als im Umgang mit Kohlhaas und seiner Sache rechtschaffener, den Gesetzen verpflichteter Richter. Er sieht sich freilich verschiedenen Korruptionsversuchen der Sippe Wenzel von Tronkas ausgesetzt (165ff.). Seine durch Arglist und Böswilligkeit veranlasste Absetzung und Ersetzung durch den Grafen Kallheim ebnen den Weg zur Zerstörung der Existenz Kohlhaasens (172). Dem Prinzen attestiert der Verfasser Rechtschaffenheit sowie rechtsstaatliches Denken und Handeln (176).

 

In der Novelle treten noch weitere Juristen in Erscheinung. Der erste Dresdner Anwalt, dessen sich Kohlhaas bedient, scheitert mit seiner Klage vor dem sächsischen Gerichtshof. Er ist Opfer der herrschenden Vetternwirtschaft geworden. Zum Befremden seines Mandanten rät er von weiteren Bemühungen in der Sache ab. Auch der zweite, durchaus angesehene Anwalt, der Kohlhaas vor Gericht vertritt, erleidet einen Misserfolg – wohl weil ihm der nötige Handlungsspielraum fehlt, um die überlange Prozessdauer zu verhindern. Der dritte – ebenso wie der zweite vom Staat bestellte – Anwalt des Pferdehändlers kann hingegen als dessen Vertreter die Klage ungeachtet der Machenschaften von Tronkas Sippe dank des Nachdrucks, mit dem er sein Ziel verfolgt, uneingeschränkt durchsetzen. Er erreicht die Verurteilung des Junkers Wenzel zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe.

 

Auch dem kaiserlichen Rechtsankläger gelingt es, dem zeitgenössischen Recht Geltung zu verschaffen. Gegen den Wunsch des sächsischen Kurfürsten wirkt er daraufhin, dass Kohlhaas wegen Verletzung des Landfriedens zum Tode verurteilt und hingerichtet wird. Freilich verweist der Verfasser auf den Mangel an Rechtssicherheit, der namentlich durch die schwache Stellung freiberuflicher Anwälte dokumentiert werde, weshalb ihre Bestrebungen – anders als diejenigen der Juristen, die im Staatsdienst stehen – oft genug erfolglos verlaufen würden (183 f.). Die kürzlich vertretene These, dass Verlauf und Ausgang des ganzen Dramas eine „Bankrotterklärung des Rechts“ darstelle (Klaus Lüderssen, FAZ v. 22. 1. 2011), hat gewiss viel für sich. Es gibt aber – wie wir immer wieder zur Kenntnis nehmen müssen – aporetische Situationen, die sich mit den begrenzten Mitteln des Rechts nicht auflösen lassen.

 

Im siebten Kapitel analysiert der Verfasser das Verfahren der Basler Richter und die Tätigkeit des Kämmerers Friedrich von Trota als Anwalt Littegarde von Auersteins, deren Wirken im „Zweikampf“ geschildert wird. Dem ad hoc vom Kaiser bestellten Tribunal fehlt es gleichfalls an der Unabhängigkeit im heutigen Sinne (185f.). Dem angeklagten Grafen glückt es sogar wiederholt die Richter zu manipulieren, was zur Folge hat, dass sie durch ihr Verhalten letztlich zum Zweikampf beitragen, die Entscheidung also einem „Gottesurteil“ überlassen (187ff.). Differenzierter erscheint dem Verfasser zufolge Kleists Darstellung der Rolle Friedrichs. Der rechtskundige Kämmerer, dem es freilich nicht nur darum geht, die Ehre seiner Mandantin vor aller Welt zu retten, sondern durch erfolgreiche Prozessführung auch sein eigenes Ansehen zu mehren, lässt es schließlich ebenfalls auf den Zweikampf ankommen. Seiner mangelnden Standhaftigkeit – im Wortsinne -, dem Fehlen hinreichenden Selbstvertrauens schreibt Sohoudé das Scheitern in diesem Duell zu (194f.). Dass er nach dem für ihn und Littegarde ungünstigen Ausgang im Disput mit seiner Mutter entgegen der bestehenden Rechtslage für eine Wiederholung des Zweikampfs plädiert, verweist dem Verfasser zufolge auf sein rechtsreformerisches Bestreben, das er in den Dienst der von ihm verfochtenen gerechten Sache stellen will (197ff.). Dass der tatsächliche Ablauf durch „göttliche Fügung“ ans Tageslicht kommt, zeigt freilich, wie sehr Kleist bei allem Sinn für die Reformbedürftigkeit zeitgenössischer Rechtsfindung an den Möglichkeiten menschlicher Wahrheitserkenntnis und Gerechtigkeit gezweifelt hat.

 

In seinen Schlussbetrachtungen (201ff.) weist Sohoudé noch einmal darauf hin, wie lang und steinig der Weg der deutschen Territorien zur Rechtsstaatlichkeit war. Ihm zufolge präsentiert nicht zuletzt Kleists literarisches Werk reiche Belege für diese Entwicklung. Es sind mehrere Aspekte, die sich unter den Stichworten „Herausbildung und Ausgestaltung des Rechtsstaates“ zusammenfassen lassen. Da geht es etwa um Rechtssicherheit, Gesetzesgehorsam oder Gesetzestreue, Rechtseinheit, Selbstbestimmung der „Untertanen“, der Bürger, sowie die Verantwortung regierender Fürsten und der innerhalb der Gerichtsbarkeit tätigen Justizpersonen für die Einhaltung der Gesetze und einen „fairen“ Umgang mit den Recht suchenden oder der Strafverfolgung unterliegenden Menschen. Deutlich wird aber auch das Bedürfnis nach Weiterentwicklung für unzureichend befundener Gesetze, nach Rechtsreformen. Sohoudé erscheint „bemerkenswert, dass Kleists Werke Themen behandeln, welche die zeitgenössischen Auseinandersetzungen über Rechtsstaatlichkeit, Rechtspluralismus, Good Governance oder ‚rule of law’ bereichern können“. Er sieht – ebenso wie Marcel Reich-Ranicki – dadurch die „Modernität“ des Dichters bestätigt (205).

 

Die eingehende Darstellung und Analyse der Staatsoberhäupter und Juristen, die in den Texten Kleists eine mehr oder minder starke Rolle spielen, zeugt von viel Einfühlungsvermögen und Sachkenntnis – freilich auch da und dort von mancher Detailmalerei. Von der Anlage seiner Studie her musste der Verfasser die Schriften des Dichters zweimal, wenngleich unter verschiedenen Vorzeichen, in den Blick nehmen, was natürlich den gedanklichen Nachvollzug des jeweiligen Geschehens erschwerte. Im Ganzen vertieft Sohoudés Untersuchung aber das Verständnis für Zusammenhänge zwischen juristischen Zeiterscheinungen, dem Zeitgeist und dem Wirken des Dichters. Insofern bildet die Studie einen beachtlichen literaturwissenschaftlichen Beitrag zur Geschichte und Entwicklung des Rechtsstaats.

 

Saarbrücken                                                                                       Heinz Müller-Dietz