Siegerist, Wiebke, Die Neujustierung des Kooperationsverhältnisses zwischen dem Europäischen Gerichtshof und den mitgliedstaatlichen Gerichten - unter besonderer Berücksichtigung einer gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für Judikativunrecht (= Europäische Hochschulschriften 2, 5074). Lang, Frankfurt am Main 2010. 187 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Die Arbeit ist die von Kay Hailbronner betreute, im Wintersemester 2009/2010 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Konstanz angenommene Dissertation der Verfasserin. Sie betrifft die bedeutsame Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu europarechtswidrigen Entscheidungen nationaler (Höchst-)Gerichte der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Im Besonderen geht es dabei um das Verhalten eines (obersten) Verwaltungsgerichtshofs, den erstens der Gerichtshof am 11. 3. 1998 unter Übermittelung des Urteils C-15/1996 um Mitteilung gebeten hatte, ob er es im Hinblick auf dieses Urteil noch für notwendig erachte, sein Vorabentscheidungsersuchen - gegebenenfalls in der vorläufigen Form aufrecht zu erhalten, der zweitens am 25. 3. 1998 seinerseits den Parteien mitteilte, dass er vorläufig davon ausgehe, dass durch das genannte Urteil die im Vorabentscheidungsverfahren anhängig gemachte Rechtsfrage tatsächlich zu Gunsten des Beschwerdeführers gelöst worden ist, und der drittens gleichwohl unter dem 24. 6. 1998, ohne zuvor auf die Möglichkeit der Änderung seiner Rechtsauffassung hinzuweisen, erstens den Beschluss fasste, das genannte Vorabentscheidungsersuchen vom 22. 10. 1997 nicht aufrecht zu erhalten, und zweites die Beschwerde - im Gegensatz zu seiner vorläufigen Ansicht - als unbegründet abwies.
In ausführlicher, selbständiger und gut formulierter Auseinandersetzung mit den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs und einer vorangehenden Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte legt die Verfasserin dar, dass der Europäische Gerichtshof bei seiner - vielleicht dem Vorbild Salomos, beiden Streitparteien wenigstens einen unbrauchbaren Teil zu geben, folgenden - Entscheidung vom 20. 9. 2003 (EuGH, Slg. 2003, 1-10239) über einen anschließenden Schadensersatzprozess des Beschwerdeführers in erster Linie - nicht an einer sachlich überzeugenden Lösung, sondern - an einer Neujustierung des Kooperationsverhältnisses mit den mitgliedstaatlichen Gerichten interessiert war. Ihm ging es eigentlich nur darum, seine übergeordnete Stellung gegenüber den mitgliedstaatlichen Gerichten durchzusetzen, ohne die dortigen Kollegen zu sehr bloßzustellen. So betrieb er anscheinend Politik im eigenen Interesse, wo Ermittlung von Recht stattfinden sollte.
Demgegenüber trat die Beurteilung des konkreten Sachverhalts so weit zurück, dass der Gerichtshof nicht davor zurückschreckte, im Gegensatz zu den Schlussanträgen des zuständigen Generalanwalts den Schadensersatzanspruch des Klägers wegen gerichtlichen Unrechts durch Einführen oder Einlegen des tatbestandbegründenden Merkmals der Offenkundigkeit des Verstoßes gegen Gemeinschaftsrecht auszuschließen. Das nationale Höchstgericht habe zwar europarechtswidrig gehandelt, erforderlich für einen Schadensersatzanspruch sei aber offenkundig europarechtswidriges Urteilen, das der Europäische Gerichtshof seinen mitgliedstaatlichen Kollegen wohl nicht vorwerfen wollte. Nachdem dann in dieser Entscheidung die Staatshaftung für judizielles Unrecht durch Fehlentscheidung wenigstens im Grundsatz einmal festgestellt worden war, konnte sie wenig später in einem weiteren Fall so verschärft werden, wie dies zumindest nach Ansicht des zuständigen Generalanwalts bereits in der Ausgangsentscheidung sachgerecht gewesen wäre.
Innsbruck Gerhard Köbler