Senn, Marcel, Rechtsgeschichte - ein kulturhistorischer Grundriss, mit Bildern, Karten, Schemen, Register, Biographien und Chronologie, 4. Aufl. Schulthess, Zürich 2007. XXIII S., 3 Taf., 481 S., zahlr. Abb. Besprochen von Wilhelm Brauneder.

 

Nicht nur Rechtsgeschichte als solche, sondern diese als einen kulturhistorischen Grundriß will das Buch bieten. Das mag Besonderheiten in der Anlage und in der Durchführung erklären. Der Rahmen reicht jedenfalls von „Rom“ (S. 23ff.) bis zum „Europa nach dem Zweiten Weltkrieg“ (S. 433ff.). Im Namensregister finden wir nicht nur Jesus Christus, sondern auch (vornamenlos) Jelzin, Moses und Mussolini. Vermutet man nach den ersten vier Kapiteln zusammenhängende Beschreibungen vor allem von Verfassungs- und Privatrechtsgeschichte in einzelnen Epochen wie etwa zu „Rom“ „Monarchischer Stadtstaat, Republik und Kaiserreich“ sowie „die justinianische Kompilation“ (1. Kapitel) oder später Stammes- und Landrecht, insbesondere den Sachsenspiegel sowie die Grundherrschaft (4. Kapitel), wandelt sich das Bild sodann erheblich. Im anschließenden Kapitel „Stadt und Wirtschaftsrecht“ rücken andere Schwerpunkte ins Bild wie etwa die „Stadt als Wirtschaftsraum“, nur wenig hören wir von Stadtrechtsfamilien (S. 146f.) und hier gar nichts von der größten, der Magdeburger. „Kölner Kauffrauen“ (S. 160) erscheinen hingegen wichtig. Nun springt die Gliederung zu Sachthemen: Es folgen „Universität und Rechtstheorie“. Hier sind auch mos italicus und mos gallicus untergebracht. Vermutet man unter „Problemorientierte Falllösung“ (S. 188f) etwas über die Bedeutung gerade des ersteren für die Praxis zu hören, sieht man sich enttäuscht: Allein der Merksatz von Gribaldus Mopha wird, ohne diesen im ansonsten namengesättigten Buch zu erwähnen, erläutert. Nichts also über die Ausbildung des Geteilten Eigentums, nichts über die Statutenlehre, wenngleich diese unterschwellig anderswo, ohne ihre Herkunft zu bezeichnen, strapaziert wird (S. 309), auch eine Skizze (S. 212) scheint sich ihr zu widmen: „Partikularrechte“ sind hier als „primäre Rechtsquellen“ dargestellt und das „Gemeine Recht“ als – kurioserweise in der Mehrzahlform – „subsidiäre Rechtsquellen“. Was allerdings erstere betrifft, so hörten wir schon anderswo anderes, nämlich, dass bei einer Lücke des Stadtrechts das Landrecht heranzuziehen sei (S. 139), und mitnichten sind „Hofrechte und Reichserlasse“ gleichzustellen. Im Kapitel „Persönlichkeit und Praxis des Juristen“ finden wir einige kühne Behauptungen. Hierher zählt etwa, die Juristen bildeten wie „ehedem die Priester“ eine „Kaste“ (S. 212), was entfernt auf die promovierten Juristen zutrifft, aber vergessen lässt, dass in der Rechtspraxis weiterhin zahlreiche nicht- oder nur halbstudierte Rechtskenner tätig waren. Problematisch ist auch die Feststellung, die Juristen seien „ausschließlich im Dienste der politisch und wirtschaftlich Mächtigen (Kirche, Fürsten, Patrizier, reiche Bürger)“ gestanden, so dass „die Vermittlung zwischen den sozialen Gruppen durch Recht nicht mehr gesichert ist“ (S. 213: durch nichts belegt). Zahlreiche Prozesse, etwa die Klagen von Grunduntertänigen gegen ihre Grundherrn bei den obersten Reichsgerichten, widerlegen dies schon auf den ersten Blick. Ein wenig mehr an Rechtswirklichkeit bieten die Ausführungen zu „Vertragsrecht und Clausula rebus sic stantibus“ (S. 221f), aber allein durch die gemeinrechtliche Brille. Schwer fällt daher ins Gewicht, dass wir nichts über Grundbücher, Testamentenbücher und heimische Vertragspraxis erfahren. Fern der Rechtspraxis bleibt auch der solche verheißende Abschnitt „Materielles Erbrecht: das Gemeine Recht als geschlechtsneutrales Recht“ (S. 220f). Angesichts der Erbenklasse „vidua inops“ ist dies so nicht ganz richtig und was Senn über die „Erhaltung eines Familiengutes, insbesondere eines Bauernhofes“ schreibt, umfasst bei weitem nicht die ganze Erbrechtspraxis. Ersteres betrifft den Adel, überwiegend nur den Hochadel, letzteres nicht einmal den Bauernstand insgesamt, da es neben Anerbengebieten auch Realteilungsgebiete gibt. Vor allem aber erben im Bürgerstand Söhne und Tochter in der Regel zu gleichen Anteilen neben Witwe bzw. Witwer kraft letztwilligen Verfügungen – jedes Testamentenbuch zeugt davon. Übrigens ist auch der gewohnheitsrechtliche Ausschluss eines Ehegattenerbrechts geschlechtsneutral: Ohne letztwillige Verfügung erben nach den meisten Lokalrechten weder die Witwe noch der Witwer nach dem vorverstorbenen Ehegatten. Das Außerachtlassen der Rechtspraxis führt zu ganz falschen Feststellungen und den Leser in die Irre. Sozusagen als Ende des usus modernus hören wir knapp etwas erst über das Bürgerliche Gesetzbuch, anschließend über die naturrechtlichen und einige andere Kodifikationen (S. 223). Bevor wir aber über diese adäquat informiert werden, kehrt die Darstellung sachlich zur Verfassungsgeschichte zurück: „Territorialstaat und Absolutismus“ (8. Kapitel) und chronologisch vorerst in das Mittelalter. Über einhundert Seiten zuvor hatten wir allerdings schon etwas über das Ende des Reiches 1806 erfahren, jetzt taucht es in der Darstellung wieder auf, und zwar mit der präzisen Feststellung, es sei „kein Staat“ gewesen: Die Reichstaatsrechtslehre sah dies freilich zum Teil anders und mit ihr fällt auch die Lehre vom Reich als zusammengesetzter Staat unter den Tisch. „Vernunftrecht und Aufklärung“ (9. Kapitel) basiert überwiegend auf der Aneinanderreihung von Biographien und Aussagen einzelner Naturrechtslehrer, hier landen wir im Wesentlichen bei den Menschenrechtserklärungen und, kulturhistorisch unterlegt, unter anderem bei Ludwig van Beethoven (S. 285). Senn kritisiert herb, dass dieser im Schlusshymnus seiner neunten Symphonie Schillers „Alle Menschen werden Brüder“ vertont habe, also hier wie auch in den Menschenrechtserklärungen „ausschließlich die Männer gemeint“ seien! Auf der Ebene dieser Diskussion könnte man entgegenhalten, es heiße doch nicht „Männerrechtserklärung“! Im 10. Kapitel „Kodifikation und Rechtsanwendung“ kehren wir zur Privatrechtsgeschichte zurück – Kodifikationen des Strafrechts und der Prozessrechte bleiben so gut wie ausgeklammert. Eine Tabelle (S. 289) zum Unterschied von Kompilation und Kodifikation will deutlich machen, jene erfasse eine „Teilrechtsordnung“, diese die „Gesamtrechtsordnung“. Dies ist falsch und wird von Senn selbst falsifiziert, denn nur knapp danach (S. 292f) nennt er zwar das ALR „eine Gesamtrechtskodifikation“, muss aber zum Code Civil gestehen, er sei „das erste reine Zivilrechtsgesetzbuch“, enthalte also mitnichten eine „Gesamtrechtsordnung“, auch das ABGB ist ihm „eine reine Privatrechtskodifikation“. Der eben dem Code Civil verliehene hehre Rang kommt ihm allerdings nicht zu, das „erste reine Zivilrechtsgesetzbuch“ war das Galizische Bürgerliche Gesetzbuch von 1797. Senns Überschrift zum ABGB lautet zwar „Österreichische Monarchie und Republik“ (S. 294), man erwartet sich daher auch über letztere und in ihrem Umkreis etwas über das Fortleben des ABGB in den sonstigen „Nachfolgestaaten“ der ersteren zu hören, doch ist dies nicht der Fall: Nichts über irgendeine Republik! Zu den Kodifikationen gibt es auch einen Unterabschnitt „Gesetzgebungslehre“, ohne die tatsächlich die Leistungen um 1800 nicht vorstellbar wären. Aber ihre großen Vertreter kommen nicht zu Wort, zitiert wird aus dem Rechtsunterricht des späteren Kaisers Joseph II., nichts aber beispielsweise von Sonnenfels. An seiner Stelle folgt ein Rückgriff auf Aristoteles. Ähnliches geschieht im Unterabschnitt „Gesetzesauslegung“ (S. 300ff): Hier spannt sich der Bogen von Aristoteles bis Kant, zu den naturrechtlichen Kodifikationen findet sich auch Einschlägiges etwa achtzig Seiten zuvor, allerdings nur zum ALR (S. 223f), und knapp zehn Seiten danach, wo es unter anderem um „Interpretationsregeln“ geht (S. 309ff). Unbedarft ist hier allerdings die Feststellung, „authentische Interpretation bedeutet eine Monopolisierung der Rechtsprechungskompetenz auf der Seite des Herrschers“: Zum ABGB erfolgte sie stets durch die Gesetzgebungskommission, natürlich unterfertigte „der Herrscher“ die entsprechenden Erlässe. Dies verstand – und versteht sich – daraus, dass die bindende Auslegung im Sinne der Gewaltenteilung nicht der Gerichtsbarkeit zukommen sollte. Übrigens verweist das ABGB den Richter zur Lückenfüllung (nicht Auslegung) allein auf die „natürlichen Rechtsgrundsätze“, nicht auch auf „die allgemeinen“ (§ 7 ABGB). Falls der neugierige Leser sich so wie über die naturrechtlichen auch über jüngere Kodifikationen wie etwa die um 1900 oder sodann jene im sozialistischen Rechtskreis informieren will, sieht er sich im Stich gelassen, da entsprechende Abschnitte fehlen! Über die Schweizer Situation hatten wir schon ein bisschen etwas zum Ende des usus modernus gehört, zu Deutschland gibt es einen Abschnitt „Kodifikation und Gemeinrechtslehre“ im Umfang von einer Seite, von der mehr als die Hälfte eine Landkarte mit den Geltungsgebieten verschiedener Privatrechte vor dem Inkrafttreten des BGB einnimmt: Ihm ist die letzte Zeile gewidmet. Die anschließende „Situation in der Schweiz“ skizzieren zwei Textseiten (S. 315ff). So versickert die Privatrechtsgeschichte immer mehr, um als „NS-Privatrecht“ und „NS-Rechtswissenschaft“ knapp wieder aufzutauchen (S. 423ff). Das Bild ist freilich nicht umfassend wie dies die Ausführungen zum Ehegesetz 1938 zeigen, das in seiner Gesamtheit, etwa mit der Einführung der obligatorischen Zivilehe in Österreich, nicht gewürdigt wird.

 

Um die neuere Verfassungsgeschichte ist es nicht viel besser bestellt. Das etwa zu 1848/49 knapp Gesagte bleibt reichlich verschwommen (S. 359). Es habe die Paulskirchenverfassung „ein rationales Kompromißwerk zwischen Tradition (Monarchie) und Fortschritt (Volkswahlrecht)“ erstellt, so heißt es hiezu, vom Verfassungssystem der Konstitutionellen Monarchie ist keine Rede, nichts über Gewaltentrennung, schon gar nichts über ihren Föderalismus. Aber nicht nur dies: Gescheitert sei sie daran, dass der preußische König „die ihm angetragene Führungsaufgabe“ deshalb ausgeschlagen habe, „weil er die konstitutionelle (verfassungsmäßige) Monarchie“ ablehnte: Dies ist eindeutig falsch, Preußen war schließlich konstitutionelle Monarchie. Dass dann 1870/71 die Reichsgründung „Ausdruck eines politischen Romantizismus und Ergebnis des Machtkalküls Bismarcks“ gewesen sei, ist mehr als simplifizierende Verkürzung. Dass hiezu eine Fußnote den Anschluss Österreichs 1938 „als Wiederherstellung des Reiches“ von 1870/71 wertet, sei der Kuriosität wegen erwähnt (S. 359). Letztlich: Zum „Europa nach dem Zweiten Weltkrieg“ hätte unbedingt auch ein Eingehen auf den sozialistischen Rechtskreis, beispielhaft anhand der DDR, gehört.

 

Die vorherigen, vermehrbaren Beispiele lassen erkennen, dass der überwiegende Charakter des Buches in einer nahezu assoziativen Aneinanderreihung von Einzelessays besteht. Rückgriffe und Vorgriffe machen es schwer, ein Bild zusammengehöriger Entwicklungsstränge zu erkennen. Vieles bleibt überdies an der Oberfläche, Manches ungesagt, ja fehlerhaft.

 

Konzeption und Text entsprechen den Vorauflagen, die erste von 2006 wies als Autoren neben Senn noch Lukas Gschwender und René Pahut de Mortanges auf. Einer abermaligen Auflage ist eine Überarbeitung dringendst anzuraten.

 

Wien                                                               Wilhelm Brauneder