Seils, Ernst-Albert, Weltmachtstreben und Kampf für den Frieden. Der deutsche Reichstag im Ersten Weltkrieg. Lang, Frankfurt am Main 2011. 764 S., zahlr. Abb. Besprochen von Martin Moll.

 

Nicht nur wegen des näher rückenden 100. Jahrestages des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges haben einschlägige Forschungen Konjunktur; ursächlich hierfür ist ebenso, dass sich insbesondere jüngere Historiker von älteren politik- und militärgeschichtlichen Fragestellungen gelöst und alltags- bzw. kulturgeschichtlichen Themen zugewandt haben. Die voluminöse Studie des bereits 1967 promovierten Ernst-Albert Seils steht nicht allein quer zu diesen aktuellen Trends, sie ist darüber hinaus von Methoden und Konzepten moderner Geschichtsforschung seltsam unberührt.

 

Titel und Untertitel geben den Inhalt nur teilweise korrekt wieder. Zum einen wird keine Geschichte des deutschen Reichstags während des Krieges geboten, denn dieses Gremium hatte, anders als Seils nahelegt, nicht allein die Friedensfrage und die Bewilligung von Kriegskrediten zu behandeln. Aufgegriffen wird also bestenfalls ein schmaler, wenngleich wichtiger Ausschnitt der Agenda des deutschen Parlaments. Zum zweiten dreht sich mindestens ein Drittel des Buches um Themen, die man selbst bei weitherziger Auslegung mit dem Titel nicht in Verbindung bringen kann. Seils setzt immer wieder zu einer histoire totale dieses Krieges an: Die Ursachen des Kriegsausbruchs (über die man allein ein vielbändiges Werk schreiben könnte), die Kämpfe an der Westfront, Lebensmittelversorgung, Lohn- und Preisentwicklung, Streiks und schließlich der Machtwechsel 1918 sowie die ersten Monate (!) danach werden in epischer Breite geschildert, ohne dass damit für das eigentliche Thema viel gewonnen wäre.

 

Anstatt sich für solche Randbereiche auf die vorhandene Literatur zu stützen und deren Resultate, soweit nötig, gerafft wiederzugeben, erfindet Seils das Rad ein weiteres Mal: Neben der – zumeist älteren, nur selten neueren – Literatur aus West- und Ostdeutschland zieht der Autor in erster Linie gedruckte Quellen heran, die er mittels langer Zitate oder paraphrasierend zu einer häufig sprunghaften und insgesamt viel zu detaillierten Collage verwebt. Zu einem erheblichen Teil liest sich das Buch wie ein Referat der Protokolle der Parlaments- und Fraktionssitzungen, wobei eine Wortmeldung nach der anderen wiedergegeben wird.

 

Die vielen Abschweifungen machen es nicht leicht, dem roten Faden des Buches: dem Bemühen einer Mehrheit des Reichstags um den Abschluss eines Friedens, zu folgen. Mit den Aktionen dieser Mehrheit, gebildet aus dem katholischen Zentrum, den Sozialdemokraten sowie den Liberalen, geht Seils überaus kritisch ins Gericht: Trotz verbaler Bekenntnisse zum Frieden hätten sich diese Parteien bis Kriegsende an Illusionen geklammert, das autoritär-monarchische System stützen und für das Reich weitgespannte Kriegsziele erreichen zu wollen. Einzig die Unabhängigen Sozialdemokraten, denen unübersehbar die Sympathie des Verfassers gehört, hätten mit der Übernahme der bolschewistischen Formel eines Friedens „ohne Annexionen und Kontributionen“ eine realistische, wenngleich nicht umgesetzte Linie verfolgt. Da der Autor weder Archivalien noch Forschungsliteratur systematisch heranzieht, sondern sich fast ausschließlich auf edierte Quellen, Zeitungen sowie die Memoiren der Protagonisten stützt, unterbleibt eine Einbettung der Bemühungen des Reichstags um eine Beendigung des Krieges in den Kontext der Außenpolitik Deutschlands, ganz zu schweigen von bündnispolitischen Aspekten. Die Friedensdiskussion bei den Ententestaaten wird ebenfalls selektiv referiert: intensiv für die USA, Frankreich und Großbritannien, überhaupt nicht für Italien und Russland.

 

Insgesamt bietet dieser viel zu umfangreiche Band zwar eine Unzahl an – leider oft zersplitterten – Einzelinformationen, die – sofern sie überhaupt mit dem eigentlichen Thema im Zusammenhang stehen – kaum systematisch ausgebreitet und analysiert werden. Es spricht Bände, dass das Buch weder eine einleitende Darlegung seiner Fragestellungen, Methoden und Quellen noch eine synthetisierende Bilanz enthält. Obwohl der Verfasser über langjährige einschlägige Erfahrungen, u. a. als Geschichtslehrer, verfügt, legt er eine Arbeit vor, die einer Chronik nähersteht als moderner Historiographie. Mit Vorsicht zu genießen ist das Personenverzeichnis, in dem zahlreiche im Text genannte Personen überhaupt nicht aufscheinen. Richtigzustellen ist die konsequente Falschschreibung des österreichisch-ungarischen Außenministers Czernin als „Cernin“. Man legt den ermüdend langatmigen und detailüberlasteten Band mit Enttäuschung aus der Hand, da er den bisherigen Forschungsstand bestenfalls in Nuancen erweitert.

 

Graz                                                                                                   Martin Moll