Seibel, Wolfgang, Macht und Moral. Die „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich, 1940-1944. kup konstanz university press/Wilhelm Fink Verlag, Paderborn/München 2010. 384 S., 5 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Während in den Niederlanden insgesamt 73 Prozent der jüdischen Menschen (102.000 von 140.000) von den Deportationsmaßnahmen der deutschen Besatzer erfasst wurden, lag die Rate im nahen Frankreich bei vergleichsweise geringen 23 Prozent (75.000 von 320.000 im Herbst 1940 Registrierten), womit dieses Land mit rund 240.000 Überlebenden „eine der niedrigsten Opferzahlen unter der jüdischen Bevölkerung unter deutscher Besatzung zu verzeichnen“ hatte (S. 17). Der vorliegende Band widmet sich der Ergründung der Ursachen dieses ungewöhnlichen französischen Sonderwegs.

 

Seine profunde Fachkenntnis auf dem Gebiet der Verwaltungsgeschichte Frankreichs während des Zweiten Weltkriegs konnte Wolfgang Seibel nicht nur als Leiter des Forschungsprojekts „Holocaust und Polykratie in Westeuropa, 1940-1944“, aus dem auch die hier zu besprechende Studie unzweifelhaft schöpft, unter Beweis stellen; unter anderem wies der Konstanzer Ordinarius für Politik- und Verwaltungswissenschaft in seiner akribischen Besprechung von Götz Alys hochgelobtem Bestseller „Hitlers Volksstaat“ diesem zahlreiche peinliche, nicht nur terminologische Fehler im Hinblick auf die Einschätzung der französischen Verhältnisse nach.

 

Die Geschichte der Judenverfolgung im besetzten und unbesetzten (= „Vichy“) Frankreich kann, vor allem durch die Arbeiten von Serge Klarsfeld (1983/1985), Ahlrich Meyer (2000/2005/2010), Martin Jungius (2008) und zuletzt Michael Mayer (2010) als gut erforscht gelten. Deshalb will der Verfasser auch „keine weitere ‚Geschichte des Holocaust in Frankreich‘ vorlegen“, obschon der Untertitel eine solche Interpretation nahelegt; es gehe ihm „um die Rekonstruktion weniger Schlüsselentscheidungen, die das Schicksal der in Frankreich 1940-1944 lebenden Juden maßgeblich beeinflusst haben“, um „Wendepunkte und kritische Weggabelungen“ und die Identifikation der diesen zugrunde liegenden Voraussetzungen (S. 25). Vier Prämissen sind der Arbeit vorangestellt: Die Erkenntnis der polykratischen Struktur des Verfolgungsapparates, der darüber hinaus spezifisch geprägt ist durch die Machtteilung zwischen den Besatzern und inländischen Hoheitsträgern und die besondere strategische Bedeutung des Landes für die deutsche Kriegsführung; die sowohl gewalthemmende als auch gewaltentfesselnde Wirkung dieser Machtteilung unter den Bedingungen der Diktatur; die Relativierung der Vorstellung, Täter und Mittäter, Kollaborateure, ‚Bystander‘ oder Widerstandsleistende im Verfolgungsgeschehen seien klar abgrenzbare Gruppen gewesen; schließlich statt konstanter Primärmotive ein Repertoire an Handlungsrationalitäten bei den Beteiligten, auf das sie nach Opportunität oder unter dem Einfluss vorangegangener Erfahrungen zugreifen konnten. So lässt der Aushandelungs- oder Bargaining-Mechanismus in der Konkurrenz um Schlüsselressourcen wie Rohstoffe, Produktionsmöglichkeiten, Arbeitskräfte, Infrastruktur, Verwaltungsapparate, Rechtsetzungskompetenzen und Ordnungskräfte grundsätzlich stets ebenso gut die Eindämmung wie die Verschärfung der Verfolgung zu.

 

Den Gang seiner Darstellung teilt der Verfasser in unterschiedliche Phasen ein, in deren erster sich die SS mit der Einsetzung eines Höheren SS- und Polizeiführers (HSSPF), Carl Albrecht Obergs, zum 1. Juni 1942 im Machtkampf mit der Wehrmacht durchsetzt. In einer Konsolidierungsphase, die im so genannten Oberg-Bousquet-Abkommen vom 8. August 1942 gipfelt, kommt es zum Arrangement mit der Vichy-Regierung: Weitgehende Autonomie für die französische Polizeiführung unter René Bousquet, die im Gegenzug Kollaboration bei der Bekämpfung der „Feinde des Reiches“ zusichert. Der dritte und kürzeste Abschnitt sei - so Seibel – „im Hinblick auf die ‚Endlösung der Judenfrage‘ von katalytischer Bedeutung“: Proteste der Kirchen gegen die Deportationen und gegen deren Ausweitung auf das unbesetzte Gebiet hätten das Ausmaß einer „Frage der Regimestabilität“ erreicht, worauf die Führung der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (Sipo/SD) in Paris auf Bitte des Chefs der Vichy-Regierung, Pierre Etienne Laval, und nach Rückversicherung bei Himmler Eichmanns Deportationsplan am 25. September 1942 suspendiert habe. Mit der Weigerung des Staatschefs Henri Philippe Pétain im August 1943, durch Unterzeichnung des entsprechenden Gesetzes naturalisierte Juden auszubürgern und damit der Deportation preiszugeben, und Italiens, die Vichy-Behörden in der eigenen Besatzungszone gegen Juden vorgehen zu lassen, sei endgültig „die ‚Endlösung‘ in Frankreich als administratives Massenverbrechen gescheitert“ (S. 29f.).

 

„Rationale Strategien mündeten“, so der Verfasser, „keineswegs in bruchlose Handlungsketten“, im Gegenteil: „Der unbedingte Wille auf deutscher Seite, die Juden auch in Frankreich sämtlich zu deportieren und zu ermorden, war eine notwendige, jedoch offensichtlich nicht hinreichende Bedingung der ‚Endlösung‘. […] Die moralische Empörung über die Judendeportationen und ihre unmenschlichen Begleitumstände war eine notwendige, aber ebenfalls nicht hinreichende Bedingung des Scheiterns der ‚Endlösung der Judenfrage‘ in Frankreich“. Politische Prioritäten, Mobilisierung von Macht und deren Kommunikation ins Zentrum der maßgeblichen Entscheidungsträger seien von entscheidendem Einfluss gewesen, wobei vor allem die Erkenntnis bedeutsam sei, „dass Menschen mit guten Absichten allein das Böse nicht verhindern, während die moralisch Indifferenten Beiträge zum Guten leisten können, selbst wenn sie dies nicht beabsichtigen“ (S. 348).

 

Welche Schlüsse allerdings aus dieser Quintessenz zu ziehen wären, lässt Wolfgang Seibel offen, scheint denn auch seine Studie den ernüchternden Befund zu bestätigen, dass Moral letzten Endes doch nur dort Wirkmächtigkeit entfaltet, wo sie auf ein passendes politisches Kalkül trifft. Die Proteste bedeutender Kirchenvertreter in Frankreich erinnern an die Vorgänge im Reich im Zusammenhang mit kirchlichen Widerständen gegen die „Euthanasie“-Aktion: Hier wie dort wollten die Machthaber eine Unruhe in der Bevölkerung vermeiden, die vordringlichere Ziele gefährdet hätte, und suchten in der Folge ihre mörderischen Aktivitäten einfach den Blicken der Öffentlichkeit zu entziehen oder auf später zu verschieben. Die erwähnten „unmenschlichen Begleitumstände“ der Judenverfolgung wurden so selbst innerhalb der SS offen kritisiert, aber keineswegs aus humanitären Motiven: Am 4. März 1943 richtete der stellvertretende Hauptschriftleiter des offiziellen SS-Organs „Das Schwarze Korps“, Rudolf aus den Ruthen, ein Schreiben an den Persönlichen Stab Reichsführer-SS, in welchem er zunächst das besonders brutale öffentliche Vorgehen eines Beamten der Geheimen Staatspolizei bei der Delogierung jüdischer Menschen aus dem bekannten Lokal „Clou“ in Berlin schildert und anschließend betont, sein Protest habe „mit Humanität […] auch nicht das Geringste zu tun“; vielmehr sei es unumgänglich, dass , „ganz gleich, was geschieht, unter strengster Wahrung der Form zu geschehen“ habe, schließlich wolle man ja nicht „den Anschein blindwütiger Sadisten erwecken, die vielleicht noch persönliche Befriedigung bei solchen Szenen empfinden“ oder gar zur „Nahrungsquelle für übelste Greuelberichte werden“ (Dok. SS-6038-N-58). Es wird hiermit für die Exekutoren offen ausgesprochen, dass „moralisches“ Handeln nur Mittel zum Zweck sein dürfe, ein Zweck, der hier in der Vermeidung von Aufsehen im Einzelnen zur Festigung und zugleich zur besseren Vertuschung des makrokriminellen Rahmens liegt.

 

Ob, wie der Verfasser behauptet, der Protest der katholischen Kirche tatsächlich „unmittelbar die Tektonik des Vichy-Regimes und damit die innenpolitische Stabilität berührte“ (S. 332), wäre noch klarer herauszuarbeiten und überzeugender zu belegen. Auch den Schutz der Juden in der italienischen Besatzungszone im Südosten Frankreichs weitgehend mit politischen Empfindlichkeiten als „Machtdemonstration gegenüber dem französischen Rivalen“ zu erklären - „Die italienischen Kommandeure (wollten) zeigen, wer Herr im Hause war“ (S. 342) - , greift zu kurz und gibt keinen wirklichen Aufschluss über die tieferen Ursachen der italienischen Haltung.

 

Quellengrundlage der Arbeit sind die von Serge Klarsfeld versammelten und edierten Dokumentensammlungen Recueil de documents des dossiers des autorités allemandes concernant la persécution de la population juive en France (12 Bände deutsche Dokumente) und Le Calendrier de la persécution des Juifs de France 1940-1944 (französische Dokumente). Chronologisch geordnet, wird jedes zitierte Aktenstück im Quellenverzeichnis noch einmal einzeln angeführt. Im Anhang des Bandes sind die zwölf „Schlüsselakteure“ des dargestellten Geschehens mit einigen wenigen biographischen Daten erfasst. Auf deutscher Seite sind dies der Höhere SS- und Polizeiführer beim Militärbefehlshaber in Frankreich, Carl Albrecht Oberg, seine Mitarbeiter Helmut Knochen und Herbert Martin Hagen sowie die beiden Judenreferenten Theodor Dannecker und Heinz Röthke. Auf Seite der Franzosen erscheinen die Kollaborateure Pierre Etienne Laval, Chef der Vichy-Regierung; der Generalsekretär der französischen Polizei, René Bousquet, und sein Stellvertreter, Jean Leguay; der Generaldelegierte der französischen Regierung in den besetzten Gebieten, Fernand de Brinon, und der Generalkommissar für Judenfragen, Louis Darquier de Pellepoix; daneben die Erzbischöfe Pierre-Marie Gerlier (Lyon) und Jules-Géraud Saliège (Toulouse). In Ergänzung zu einer Karte Frankreichs während der deutschen Besatzungszeit von 1940 bis 1944 zeigen die vier weiteren Abbildungen des Bandes neben anderen Persönlichkeiten einige dieser Akteure.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic