Segesser, Daniel Marc, Recht statt Rache oder Rache durch Recht? Die Ahndung von Kriegsverbrechen in der internationalen wissenschaftlichen Debatte 1872-1945 (= Krieg in der Geschichte 38). Schöningh, Paderborn 2010. 472 S. Besprochen von Werner Augustinovic
Die Einbandillustration der hier zu besprechenden Arbeit ist mit Bedacht gewählt: Während der Hintergrund mit der Urteilsverkündung am 30. September 1946 die entscheidende Szene des Internationalen Militärgerichtsverfahrens gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg festhält, findet sich, hervorgehoben am vorderen Einbanddeckel, auch ein Brustbild Johann Caspar Bluntschlis (1808-1881), des namhaften Schweizer Völkerrechtlers und Mitbegründers des Institut de Droit International in Gent. Der Rahmen von den ersten ernst zu nehmenden Bemühungen der rechtlichen Ahndung von Kriegsverbrechen bis hin zur De-facto-Realisierung dieser Zielsetzung im Weg eines rechtsstaatlichen Verfahrens im Nürnberger Prozess ist damit deutlich angezeigt, obwohl der Verfasser seine Betrachtungen erst im vorläufigen Endpunkt dieser langen Entwicklung, der Etablierung des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dessen Statut, 1998 verabschiedet, mit 1. Juli 2002 in Kraft getreten ist, ausklingen lässt.
Daniel Marc Segesser, Eidgenosse wie Bluntschli, jedoch kein Rechtsgelehrter, sondern Historiker, was ihn laut Verlag in die Lage versetze, „den notwendigen Bezug der Debatte zu ihren politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen her(zustellen), ein Vorzug, der sein Buch vor bisherigen Studien aus der Feder von Juristen auszeichnet“, hat sich 2006 mit dieser Arbeit an der Universität Bern habilitiert, wo er am Historischen Institut als Privatdozent lehrt. Seine Untersuchung stützt er in erster Linie auf die Auswertung eines breiten Samples von gezählten 85 Fachperiodika europäischer und US-amerikanischer Provenienz.
Seit der Antike stand das Konzept des bellum iustum, des gerechten Krieges, für lange Zeit im Mittelpunkt der Überlegungen zur Rolle rechtlicher Bestimmungen in Zusammenhang mit dem Krieg. Erst mit der Aufklärung, mit der zunehmenden innerstaatlichen Verrechtlichung und der damit einsetzenden Diskussion um eine allgemeine Verrechtlichung auch der zwischenstaatlichen Beziehungen, trat dieser Aspekt zugunsten der Frage, wie mit den Mitteln des Rechts der Friede zwischen den Staaten gesichert und die Schrecken des Krieges beschränkt werden könnten, in den Hintergrund. Militärs wie Pazifisten – wenn auch aus ganz unterschiedlichen Motiven – beäugten mit Argwohn die Vorstöße der Juristen im 19. Jahrhundert in Richtung vertragsrechtlicher Beschränkungen der Kriegsführung und einer Stärkung des ius in bello, deren Gültigkeit sich damals ausschließlich auf Konflikte zwischen „zivilisierten“ – gemeint waren die europäischen – Staaten erstrecken sollte.
Bereits 1872 ventilierte Gustave Moynier, Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), unter dem Eindruck der im Deutsch-Französischen Krieg manifestierten exzessiven Gewalt die Idee der Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs zur Ahndung von Verstößen gegen die Genfer Konvention von 1864, doch scheiterten seine und seiner Mitstreiter Bemühungen vorerst vor allem am Widerstand der Staaten, die jeder Einschränkung ihrer Souveränitätsrechte zunächst ablehnend gegenüberstanden. Ein kleiner praktischer Fortschritt wurde mit Artikel 28 der Genfer Konvention von 1906 erzielt, der zumindest eine Verpflichtung zum Erlass nationaler Strafbestimmungen enthielt.
Sehr bald sollte sich jedoch die Unzulänglichkeit dieser Kompromisslösung erweisen: Während man die Grausamkeiten der Balkankriege von 1912/13 noch beschönigend einer „halbzivilisierten“ Peripherie zuzuordnen wusste, redeten die im Zuge des Ersten Weltkriegs namentlich in Belgien und Nordfrankreich begangenen Gräueltaten einer Etablierung des Begriffes „Kriegsverbrechen“ als terminus technicus ebenso das Wort, wie sie die allgemeine Überzeugung der Strafbarkeit derartiger Verstöße beförderten. Entsprechende Strafartikel fanden folglich auf Initiative vor allem französischer und britischer Juristen Eingang in die Pariser Vorortsverträge von 1919/20, die Jurisdiktion wurde nationalen und gemischten Militärgerichten der siegreichen Entente übertragen. Alliierte Forderungen nach einer Auslieferung des ehemaligen deutschen Kaisers Wilhelm II. aus dessen holländischem Exil erregten jedoch heftigen Widerstand vor allem bei deutschen Juristen, unter anderem bei Walter Jellinek, und die auf deutsche Bitte dann doch vor dem Reichsgericht in Leipzig verhandelten Kriegsverbrecherprozesse endeten in summa und auf lange Sicht mit der allgemeinen Erkenntnis, „dass Verfahren vor den Gerichten desjenigen Staates, dessen Angehörige für die Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht würden, fast immer zu unbefriedigenden Ergebnissen führten“ (S. 231).
Dennoch gelang es trotz rühriger Aktivitäten von Rechtsexperten wie Walter George Phillimore, Hugh H. Bellot, Megalos Caloyanni oder Vespasien Pella auch während der Zwischenkriegszeit nicht, sowohl den Tatbestand der klassischen Kriegsverbrechen als auch jenen des in der Fachdiskussion immer stärker betonten ungerechtfertigten Angriffskrieges in Form einer internationalen Konvention rechtlich zu verankern oder gar einen internationalen Strafgerichtshof einzurichten. Der Zweite Weltkrieg lässt laut Segesser zwei Phasen erkennen: In den ersten Kriegsjahren, die von militärischen Erfolgen der Deutschen gekennzeichnet sind, diskutierten vor allem deutsche Militärjuristen über die Qualifikation von Verstößen gegen das ius in bello als strafrechtlich zu würdigende Verbrechen; mit Beginn des Russlandfeldzuges 1941 versandete diese Diskussion, wohingegen sie auf alliierter Seite nun erst einzusetzen begann und vorrangig die Frage der Tatbestände thematisierte: Täter sollten nicht wieder – wie vielfach nach dem Ersten Weltkrieg – straffrei ausgehen, und darüber hinaus bedurfte das Problem der Ahndung von nicht unter die klassischen Kriegsverbrechen subsumierbaren Verbrechen und der Auslösung des Krieges dringend der rechtlichen Klärung. Winston Churchills und Henry Morgenthaus Plänen einer summarischen Hinrichtung der Hauptkriegsverbrecher stellte sich vor allem der US-amerikanische Kriegsminister Henry Stimson – unterstützt von namhaften Juristen, die zur Abdeckung des gesamten Spektrums begangener Verbrechen den im amerikanischen Recht verankerten Tatbestand der Verschwörung, also der Verabredung zum Zweck einer ungesetzlichen Handlung oder des Einsatzes ungesetzlicher Mittel, bemühten - erfolgreich entgegen: „Ziel der Verfahren sollte es für Stimson und seine Mitarbeiter sein, nicht nur die Verantwortlichen für die deutschen Grausamkeiten strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen, sondern auch der deutschen Bevölkerung den verbrecherischen Charakter des nationalsozialistischen Regimes vor Augen zu führen“ (S. 382). Das durch die Londoner Charta vom 8. August 1945 ins Leben gerufene Internationale Militärtribunal (IMT) verhandelte schließlich vom 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946 in Nürnberg gegen die Hauptkriegsverbrecher, wobei sich besonders der amerikanische Chefankläger Robert H. Jackson von Anfang an bemühte, der Optik einer Siegerjustiz ebenso wie dem Eindruck, Rache durch Recht zu üben, entschieden entgegenzutreten.
Trotz weiterer Fortschritte im Völkerstrafrecht (Anerkennung der Charta und der Urteile des IMT als völkerrechtsgemäß durch Resolutionen der UNO 1946; Genozidkonvention 1948; Genfer Konventionen 1949; Konvention über die Nichtanwendung von Verjährungsfristen im Fall von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit 1968) blockierte der Kalte Krieg vorerst weiterhin die Durchsetzung eines permanenten internationalen Strafgerichtshofes. Erst mit dessen Ende, mit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien und dem Völkermord in Ruanda entstand in den 1990er Jahren eine zwingende Dynamik, die mit der Schaffung des Haager Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) - trotz dessen offenkundiger Unzulänglichkeiten - ein mehr als hundertjähriges Desiderat endlich realisieren sollte.
Der Verfasser stellt diese Gesamtentwicklung dar, indem er – ganz dem Titel des Bandes folgend - vorrangig den zeitgenössischen juristischen Fachdiskursen sehr breiten Raum einräumt; dennoch gelingt es ihm leidlich, dabei auch die jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Bezugssysteme im Auge zu behalten, wie es beispielsweise seine Ausführungen zur intensivierten medialen Mobilisierung der Öffentlichkeit schon während des Ersten Weltkriegs (S. 170ff.) belegen. Im Sinne einer noch besseren inhaltlichen Orientierung sind die mit dem Begriff „Fazit“ überschriebenen Zusammenfassungen jeweils am Ende der vier großen, chronologisch gegliederten Abschnitte (1872-1908; Balkankriege und Erster Weltkrieg; Zwischenkriegszeit; Zweiter Weltkrieg) besonders zu begrüßen. Der Fußnotenapparat beschränkt sich im Wesentlichen auf Literaturzitate und bringt nur in Ausnahmefällen ergänzende Erläuterungen zur Sache.
Während der ausführliche Anhang vor allem mit einer gut brauchbaren Übersicht der Regelwerke zum ius in bello und ius ad bellum für den Zeitraum 1856-1945 sowie einem gemischten Sach- und Personenregister überzeugt, kann dies vom Lektorat nicht behauptet werden: Kasusfehler (S. 25: „den sie repräsentierenden Souverän zustehen“ statt „dem“; S. 74: „im immer noch andauernde Streit“ statt „andauernden“; S. 163: „nicht in amtlichen Auftrag“ statt „im“…) und Kongruenzfehler (S. 230: „wurde diese [die Ideen; W. A.] betrachtet“ statt „wurden“) sorgen doch für manche Irritation beim sorgfältigen Leser. Darüber hinaus wäre ob der großen Anzahl an Juristen, die der Verfasser im Zuge seiner Studie erwähnt, eine gesonderte Beistellung ihrer Kurzbiographien in alphabetischer Ordnung mit den wichtigsten Daten zu Leben und Werk wünschenswert gewesen.
Kapfenberg Werner Augustinovic