Schulze, Renate, Justus Henning Böhmer und die Dissertationen seiner Schüler. Bausteine des Jus Ecclesiasticum Protestantium (= Jus Ecclesiaticum 90). Mohr (Siebeck), Tübingen 2009. X, 213 S. Besprochen von Arno Buschmann.

 

Die vorliegende Studie, eine von Michael Stolleis betreute Frankfurter rechtsgeschichtliche Dissertation, ist einem Rechtsgelehrten gewidmet, der von Vielen als der Vater des evangelischen Kirchenrechts angesehen wird und der zu den wenigen Vertretern der von Savigny verachteten gemeinrechtlichen Jurisprudenz des 18. Jahrhunderts zählt, die vor seinen kritischen Augen Gnade fanden. Im Zentrum der Arbeit der Verfasserin steht Böhmers Rolle bei der Ausbildung des protestantischen Kirchenrechts und hier vor allem die Untersuchung seines kirchenrechtlichen Hauptwerkes „Jus Ecclesiasticum Protestantium“ und dessen Verhältnis zu den zahlreichen kirchenrechtlichen Dissertationen, die unter dem Vorsitz von Böhmer entstanden sind. Im Sinne der modernen Disputationsforschung will sie zu klären versuchen, wie sich Themen und Thesen der Dissertationen zum Inhalt der fünf Bände des „Ius Ecclesiasticum Protestantium“ verhalten und welche Funktion diese im Hinblick auf Entstehung und Inhalt des Werkes einnahmen. Zugleich möchte sie herausfinden, ob und in welchem Umfang sich in diesen kirchenrechtliche Streitfragen und Ordnungsprobleme der Zeit spiegeln und welche Lösungsvorschläge formuliert wurden. Schließlich möchte sie einen Beitrag zur Antwort auf die bekannte Frage liefern, ob und inwieweit das „Ius Ecclesiasticum Protestantium“ eine Übertragung der Methode des Usus modernus Pandectarum auf das protestantische Kirchenrecht darstellt oder nicht.

 

Die Verfasserin beginnt ihre Darstellung mit einer Schilderung der Anfänge der juristischen Fakultät der Universität Halle im 18. Jahrhundert und der Stellung des protestantischen Kirchenrechts im Rahmen des vor allem von Thomasius’ Vorstellungen und Zielen beeinflussten akademischen Unterrichts. Zu Recht hebt sie hervor, dass von der ursprünglich von Thomasius angestrebten Zweiteilung des Unterrichts in einen Unterricht im Ius canoncum und nachfolgend einen Unterricht über dessen Abänderungen durch die protestantische Lehre im Verlauf der Zeit nicht mehr viel übrig blieb, man sich stattdessen einerseits an der zeitgenössischen Systematik des kanonischen Rechts orientierte, anderseits aber vor allem unter dem Einfluss Böhmers stärker auf die Berücksichtigung der Kirchengeschichte verlegte. In der Folge beschränkt sich die Verfasserin bei ihren Ausführungen auf die Untersuchung von Buch I des Böhmer’schen Werkes, in dem die allgemeinen Grundlagen des protestantischen Kirchenrechts behandelt werden, und Buch III, das Grundbegriffe, Stellung und rechtliche Basis der protestantischen Gemeinde erörtert sowie Buch IV, das dem protestantischen Eherecht gewidmet ist. Am Schluss sucht sie in einem als „Conclusio“ bezeichneten Abschnitt die Frage nach der Übertragung der Methode des Usus modernus auf das protestantische Kirchenrecht zu beantworten sowie die Frage nach dem Verhältnis von Gegenstand, Thematik und Thesen der Dissertationen zum Inhalt des Böhmer’schen Werkes zu skizzieren. Ein vollständiges Verzeichnis aller von Böhmer präsidierten Dissertationen rundet die Untersuchung ab.

 

Zu Recht hebt die Verfasserin bei ihrer Untersuchung von Buch I die Betonung der zentralen Rolle des Wohles der Kirche bei der Abgrenzung des protestantischen Kirchenrechts vom Ius canonicum der katholischen Kirche hervor. „Salus ecclesiae“ sei für Böhmer die „suprema lex“ gewesen, an der das überlieferte kanonische Recht an Hand der Kirchengeschichte zu prüfen sei, die allein Aufschluss über die Motive der Entstehung der einzelnen Regelungen geben könne. Das Buch III wird von der Verfasserin zutreffend als ein fundamentaler Bestandteil des ganzen Böhmer’schen Werkes angesehen, nicht nur, weil am Anfang von Böhmers akademischer Laufbahn ein Traktat über das Recht der Gemeinde gestanden habe, sondern weil es sich bei seinem Gegenstand um einen Kernbestandteil des protestantischen Kirchenrechts handelt, dessen Bedeutung sich für die Verfasserin auch darin manifestiert, dass nicht weniger als 50 Dissertationen aus diesem Bereich von Böhmer präsidiert worden  seien. Etwas anders verhält es sich für die Verfasserin mit Buch IV, das zwar als solches das Buch mit dem geringsten Umfang aller fünf Bücher des Böhmer’schen Werkes gewesen sei, dessen Inhalt aber dennoch von großer praktischer Bedeutung für das Leben des einzelnen protestantischen Gläubigen war und demgemäß ebenfalls Gegenstand von nicht wenigen Dissertationen gewesen sei. Die Frage nach der Übertragung der Methode des Usus modernus Pandectarum auf die Behandlung der protestantischen Kirchenrechts beantwortet die Verfasserin im Sinne der herrschenden Meinung positiv, weist aber zutreffend darauf hin, dass es einen wichtigen Unterschied gebe, nämlich die Tatsache, dass bei Böhmers kirchenrechtlichen Erörterungen anders als im Usus modernus Pandectarum auch religiöse Bekenntnisschriften als Rechtsquellen herangezogen worden seien. Bei der Frage nach der Bedeutung der Dissertationen für das Böhmer’sche Werk gelangt sie nach einer allgemeinen Schilderung der Funktion der Dissertationen für das zeitgenössische akademische Leben zu der Feststellung, dass für Böhmer die Dissertationen eine Art Bausteine für die Abfassung seines Werkes bildeten, aus denen er häufig Zitate, Belegstellen und ganze Textbestandteile in überarbeiteter Form, aber auch wörtlich für seinen Text verwendete, ohne sie als solche zu kennzeichnen, ähnlich wie dies auch bei Samuel Stryk in dessen Usus modernus Pandectarum zu beobachten ist – eine Methode, die dem Betrachter der Entstehung großer Werke auch der Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts nicht ganz fremd ist.

 

Das besondere Verdienst der Verfasserin besteht darin, dass sie - wenn auch selektiv - den Entstehungsprozess des wichtigsten Werkes des protestantischen Kirchenrechts im 18. Jahrhundert einer gründlichen Analyse unterzogen, die Beziehungen zwischen Böhmer als Autor, seinem Werk und den von ihm präsidierten Dissertationen zu entschlüsseln versucht und mit diesem Versuch einen Einblick in die Wissenschaftspraxis des 18. Jahrhunderts wie zugleich die doch eher profane Entstehung des von Zeitgenossen und Nachwelt gleichermaßen als monumental gerühmten Werkes geliefert hat.

 

Salzburg                                                                     Arno Buschmann