Schulz, Gerhard, Mitteldeutsches Tagebuch. Aufzeichnungen aus den Anfangsjahren der SED-Diktatur 1945-1950, hg. v. Wengst, Udo (= Biographische Quellen zur Zeitgeschichte 25). Oldenbourg, München 2009. 269 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

In der letzten Nacht ist der erste Schnee gefallen, so beginnt in Mahlis zwischen Leipzig, Dresden und Chemnitz am 15. November 1945 das Tagebuch des am 24. August 1924 in Sommerfeld in der schlesischen Niederlausitz als Sohn des Leiters der dortigen Stadtwerke geborenen Gerhard Schulz, den der Gedanke an „unser gutes Haus, die warmen Stuben und die Geborgenheit daheim wehmütig stimmt und manches Mal Tränen in die Augen treten lässt“. Drei Tage später führt er aus: „Je öfter ich in unsere heutigen Zeitungen schaue, desto verlogener und falscher erscheinen mir die kommunistischen Parolen und Phrasen vom Nationalbewusstsein, Zusammengehörigkeitsgefühl des deutschen Volkes, von der Betonung des Eigentumsprinzips und der Ablehnung des bolschewistischen Kollektivgedankens. Die Kommunisten tarnen sich“.

 

Am 28. April 1950 hält er fest: „Wenn ich jemals gemeint habe, Bürokratie zu kennen, so bin ich in der letzten Woche eines Besseren belehrt worden“. Aber er ist jetzt Berliner Einwohner, genießt Asylrecht und ist Student der Freien Universität, freilich noch unter Vorbehalt. Hier wird er im Oktober 1952 mit der von Hans Herzfeld betreuten Dissertation über die deutsche Sozialdemokratie und die Entwicklung der auswärtigen Beziehungen vor 1914 promoviert und nach Wechseln an die Deutsche Hochschule für Politik und in die historische Abteilung des Instituts für politische Wissenschaft der Freien Universität (1955) im November 1960 über Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik der Jahre 1919 bis 1930 unter der Betreuung durch Hans Herzfeld habilitiert.

 

In der kurzen Einleitung schildert sein Schüler Udo Wengst den weiteren Werdegang des von 1961/1962 bis zu seinem Tode im April 2004 in Tübingen wirkenden bedeutenden Zeithistorikers der Gründergeneration und das im Besitz der Söhne Cornelius Schulz-Popitz und Johannes Schulz befindliche, dem Nachlass im Bundesarchiv Koblenz zuzuführende Tagebuch. Es zeigt einen von Hunger, Kälte und Politik geplagten jungen Deutschen, der etwas Besonderes, Einmaliges, etwas Neues leisten wollte und den die Vorstellung ängstigte, keinen Platz in der Welt einnehmen und keine Aufgabe in Einmaligkeit erfüllen zu können. Darüber hinaus schildert es die bedrückenden Verhältnisse in der sowjetischen Besatzungszone bis etwa zur Errichtung der Deutschen Demokratischen Republik aus persönlicher Perspektive in aller Offenheit, die einen bedeutsamen Ausschnitt erlebter Zeitgeschichte im Wandel von Ost nach West biographisch hautnah vermittelt.

 

Innsbruck                                            Gerhard Köbler