Schreiber, Horst, Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol, mit Beiträgen von Arora, Steffen/Plangger, Sascha/Seifert, Oliver/Schlosser, Hannes/Schönwiese, Volker (= transblick 6). StudienVerlag, Innsbruck 2010. 405 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Die Erde ist voll von Vulkanen, in denen es beständig brodelt, aus denen die gefährliche Glut aber selten und dann überraschend zum Ausbruch kommt. Seit vielen Jahrhunderten gibt es zahllose Rechtsbrüche in der sich selbst mit dem Mantel der Nächstenliebe umhüllenden christlichen Kirche wie in zahlreichen anderen menschlichen Einrichtungen auch und doch bedurfte es eines einzelnen Bischofs gewissermaßen als Katalysator, bis die Hülle für einmal ein wenig stärker aufgerissen wurde und sexueller Missbrauch in Kirche und Heimen in Deutschland zumindest so lange Gegenstand öffentlicher Diskussion werden konnte, bis die Erregung erkaltete und das öffentliche Interesse sich wieder anderen neuen Themen zuwandte. Eine gewisse Auswirkung hatte diese unerwartete und vielfach unerwünschte Eruption auch in Österreich, wo plötzlich zumindest vereinzelt eine Erörterung über Heimerziehung möglich wurde.

 

Ergriffen wurde diese Chance von einer um den Zeithistoriker Horst Schreiber in Innsbruck versammelten Autorengruppe, der es gelang, Politiker für sich und ihr Anliegen zu gewinnen. Auf den Hinweis, dass in den geschlossenen Erziehungsheimen in Tirol eine systematische und strukturelle Missachtung der Menschenrechte in den Formen von Schlagen, Demütigen und Missbrauchen vor sich ging, richtete der zuständige Landesrat eine Steuerungsgruppe und eine Opferstelle des Landes ein, an die sich ehemalige Heimkinder wenden konnten. Wohl nur als kleine Spitze eines Eisbergs meldeten sich daraufhin 79 Betroffene mit ihren zwischen 1950 und 1985 gemachten beschämenden Erfahrungen, die sie im Namen der Ordnung hinnehmen mussten, ohne sich in irgendeiner menschenwürdigen Art und Weise dagegen wehren zu können.

 

Als öffentliches Signal für diese vom Land Tirol im gesamtösterreichischen Vergleich übernommenen Vorreiterrolle dokumentiert das wichtige Werk den allzu menschlichen Vorgang in der Form des historischen Hintergrunds, der autoritären Heimerziehung in der zweiten Republik, elfer Lebensgeschichten aus Kramsach, Westendorf, Mariahilf, Scharnitz, Martinsbühel, Kleinvolderberg, Kaiser-Ebersdorf, und Sankt Martin in Schwaz (mit gehetzten Hunden, Holzscheiten, Zwangsjacken, Anhängungen, Terrorismus, Sadismus, Ungerechtigkeit und Persönlichkeitsvernichtung), kollektiven Erfahrungen, der Rolle der Psychiatrie, der Lage der Menschen mit Behinderung und einem abschließenden Blick nach vorne und zurück. Man wird dem Vorwort ohne Weiteres darin zustimmen könne, dass bei der Aufarbeitung der damit verbundenen Verhaltensweisen die Stimme der Betroffenen viel zu lange ungehört geblieben und ihre uneingeschränkte Veröffentlichung selbverständlich ist. Für die Zukunft kann man nur hoffen, dass die zentralen Rahmenbedingungen dauerhaft gebessert werden, damit das Problem nicht alsbald durch neue Basaltschichten wieder begraben wird - weil der Mensch grundsätzlich eben so ist, wie er ist und gerne und vielfach die eigene wie die übertragene Macht über andere nach Belieben gebraucht und missbraucht.

 

Innsbruck                                                                                                       Gerhard Köbler