Schmitz, Christian, Die Vorschläge und Entwürfe zur Realisierung des preußischen Verfassungsversprechens 1806–1819. Eine rechtliche Bilanz zum Frühkonstitutionalismus  der Stein-Hardenberg’schen Reformzeit (= Beiträge zu Grundfragen des Rechts, Bd. 3). V&R unipress, Göttingen 2010. 461 S. Besprochen von Hans-Christof Kraus.

 

Der von Heinrich von Treitschke vor eineinhalb Jahrhunderten so bezeichnete „erste preußische Verfassungskampf“, die heftige Auseinandersetzung um das zuerst verkündete, später aber nicht mehr eingehaltene Verfassungsversprechen König Friedrich Wilhelms III., zählt zu den wichtigsten Themen der preußischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Aus der politischen Entwicklung des Vormärz und vor allem aus der Vorgeschichte der Revolution von 1848/49 ist dieser brisante politische Konflikt kaum fortzudenken. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass bereits seit langem wichtige und z. T. auch materialreiche Arbeiten hierüber vorliegen; angefangen bei Adolf Stern und Paul Haake über Hans Haußherr und Ernst Walter Zeeden bis hin zu Ernst Rudolf Huber, Reinhart Koselleck und Herbert Obenaus. Tatsächlich hat sich Schmitz vorgenommen, in seiner rechtshistorischen (von Jörg-Detlef Kühne betreuten) Dissertation noch einmal im besten Sinne ad fontes zu gehen und besonders diejenigen Materialien in den heute wieder uneingeschränkt zugänglichen Beständen des früheren preußischen Staatsarchivs noch einmal genauer in den Blick zu nehmen, die bisher nur partiell oder auch gar nicht ausgewertet oder die in ihrer Bedeutung verkannt worden sind. So ist eine im besten Sinne mikrohistorisch vorgehende rechts- und verfassungsgeschichtliche Spezialstudie entstanden, in der nicht die einzelnen historischen Akteure im Mittelpunkt stehen, sondern, wie der Verfasser selbst im Vorwort sagt, „sämtliche Vorschläge und Entwürfe eine preußische Verfassung betreffend anhand einheitlicher Untersuchungspunkte“ (S. 9) eingehend und im Detail rekonstruiert sowie analytisch befragt werden.

 

Drei größere Abschnitte enthält die neue Untersuchung. Der erste Teil, „Anfänge“ betitelt (S. 41-106), behandelt den Beginn der durch die dramatischen Zeitereignisse eingeleiteten und beförderten Reformzeit, ausgehend von der ersten Verfassungsdenkschrift Steins vom April 1806, die später – ob wirklich mit Recht, sei dahingestellt – als die „Geburtsstunde der preußischen Constitution“ (S. 44) bezeichnet worden ist. Sie beabsichtigte zuerst weniger die Implementierung einer modernen Staatsverfassung, sondern eher die „Bildung einer Regierungsverfassung“ (S. 45), um den Begleiterscheinungen der ärgsten Notlage – hervorgerufen durch die Schwächen der alten, aus dem Ancien Régime überkommenen Institutionen – rasch und wirksam abzuhelfen. Steins Entwürfe und Aktivitäten in dieser Hinsicht, weiter ausgeführt in der berühmten „Nassauer Denkschrift“ vom Sommer 1807, blieben freilich zuerst weitgehend folgenlos, da sein von Napoleon erzwungener Rücktritt vom Amt des leitenden Berliner Ministers und seine bald folgende Flucht aus Preußen die soeben begonnene Reformtätigkeit abrupt beendeten. Die dann folgende, in der Forschung oft als „Interimsministerium“ bezeichnete Regierung Altenstein/Dohna (1808/09) kann zwar (ausweislich der umfangreichen, von H. Scheel/D. Schmidt herausgegebenen Quellenedition: Von Stein zu Hardenberg. Dokumente aus dem Interimsministerium Altenstein/Dohna, Berlin-Ost 1986) – als nicht so unbedeutend gelten, wie die frühere Forschung meinte, doch in verfassungspolitischer Hinsicht zeigen, so die neuesten Resultate von Schmitz, „die zum Teil hilflosen Bemühungen der Interimsregierung, dass es an dem Willen und wohl auch an der politischen Durchsetzungsfähigkeit mangelt[e]“ (S. 105), um den bereits vom Freiherrn vom Stein projektierten verfassungspolitischen Wandel einzuleiten.

 

Erst als Hardenberg die Regierung übernahm, konnte er damit beginnen, sein Vorhaben einer „Revolution im guten Sinn“ nach dem leitenden Prinzip: „Demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung“ (S. 111) umzusetzen; dies ist das Thema des zweiten Teils der Untersuchung (S. 107-217). Über den Sinn dieser Formulierungen des preußischen Staatskanzlers ist in der Forschung bekanntlich lange gestritten worden, doch es ist klar, dass die Betonung auf dem Element des Monarchischen lag. Hardenbergs tatsächlich immense Anstrengungen, eine moderne konstitutionelle Verfassung für das Königreich Preußen durchzusetzen, werden anschließend bis ins kleinste Detail hinein rekonstruiert, nicht zuletzt anhand einer Fülle bisher nicht bekannter oder kaum beachteter, oft auch in ihrer Bedeutung nicht korrekt eingeschätzter Dokumente aus dem Geheimen Staatsarchiv.

 

Das endgültige Scheitern des Projekts – das wird vor allem im dritten und letzten Teil des Buches (S. 219-385) klar ersichtlich, der den „Abschwung“ der Jahre 1815 bis 1819 rekonstruiert – resultiert in erster Linie aus zwei Entwicklungen: Zum einen aus dem Misserfolg der mit nicht geringem Engagement geplanten preußischen Volksvertretung, die zuerst in der Form einer „Notabelnversammlung“, später dann einer wesentlich einflusslosen „Interimistischen Nationalrepräsentation“ sich als totgeborenes Kind erwies, und zum anderen aus der zunehmenden Einflussnahme reaktionärer Kreise der Berliner Regierung und der Hofpartei, in erster Linie des Hausministers Graf Wittgenstein, dem Hardenberg vertraute, der jedoch hinter dem Rücken des Kanzlers mit dem König und sogar mit Metternich gegen den Berliner Regierungschef intrigierte. Das alles war bisher zwar in den Umrissen bereits bekannt, doch nun kann die Entwicklung – bis hin zur schmählichen „Teplitzer Punktation“ vom 1. 8. 1819, in der Preußen sich Österreich gegenüber verpflichten musste, selbst „keine allgemeine, mit der … inneren Gestaltung seines Reichs unverträgliche Volksvertretung einzuführen“ (S. 325, Anm. 1391) – genau und bis ins kleinste Detail verfolgt werden. Immerhin kann Schmitz nachweisen, wie geschickt, wenn auch in der Sache letztendlich vergeblich, Hardenberg bis zuletzt agierte, um den Intrigen seines Widersachers Metternich entgegenzuarbeiten, dessen Bemühungen zur Verhinderung einer preußischen Konstitution letztendlich – zum Schaden Preußens und Deutschlands – von Erfolg gekrönt waren.

 

Als Nachteil der Studie wird man den bisweilen recht schwerfälligen, manchmal zur Umständlichkeit neigenden Stil bezeichnen müssen; hier und da lassen auch die quellenkritischen Analysen des (nicht aus der historischen Forschung kommenden) Verfassers etwas zu wünschen übrig; etwa dort, wo es um den Quellenwert des allein von Metternich überlieferten Inhalts seiner Gespräche mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm III.  vom 28. Juli 1819 geht (S. 318, Anm. 1357!). Manche wichtigen Titel aus der älteren und neueren Forschung sind unberücksichtigt geblieben (etwa F. Hartungs Arbeit über „Hardenberg und die preußische Verwaltung in Ansbach-Bayreuth 1792 bis 1806“ oder A. Hofmeister-Hungers Studie: „Pressepolitik und Staatsreform. Die Institutionalisierung staatlicher Öffentlichkeitsarbeit bei Karl August von Hardenberg 1792-1822“). – Erfreulich und ertragreich ist dagegen der ausführliche Quellenanhang, der erstmals achtzehn wichtige Dokumente zur Entwicklung der preußischen Verfassungsfrage zwischen 1812 und 1819 in originaler Gestalt abdruckt, darunter mehrere bedeutende (auch anonyme) Gutachten und einige besonders aufschlussreiche Quellentexte aus dem Sommer 1819.

 

Immerhin wird deutlich, und das zählt wohl zu den bedeutendsten Resultaten der Untersuchung, dass Preußen, wenn es denn um 1815 tatsächlich zu einer modernen Verfassungsgebung gekommen wäre, „eine Art liberale Leuchtturmfunktion in Deutschland“ hätte einnehmen können. Dass es dazu eben nicht gekommen ist, ist zweifelsfrei Metternich und dessen Berliner Satrapen und Zuträgern, auch dem ängstlichen und zögerlichen König anzulasten, kaum jedoch Hardenberg, dessen Entwürfe sich jeweils an den realen Verhältnissen orientierten, im Gegensatz etwa zu den im Buch ebenfalls untersuchten, inhaltlich zweifellos kühneren Projekten etwa Wilhelm von Humboldts. Hardenbergs Verdienst liegt, wie der Autor abschließend mit Recht feststellt, „im Einfordern des politisch Mach- und Durchsetzbaren im Sinne einer pragmatischen Politik und im steten Einfordern einer Verfassung für Preußen“ (S. 384).

 

Passau                                                                                          Hans-Christof Kraus