Schmitt, Carl, „Solange das Imperium da ist“. Carl Schmitt im Gespräch mit Klaus Figge und Dieter Groh 1971, hg., kommentiert und eingel. v. Hertweck, Frank/Kisoudis, Dimitrios in Zusammenarbeit mit Giesler, Gerd. Mit einem Nachwort v. Groh, Dieter. Duncker & Humblot, Berlin 2010. 198 S. Besprochen von Bernd Rüthers.

 

Klaus Figge (1934, Redakteur beim Südwestfunk) und Dieter Groh (1932, Historiker) wurden 1971 von dem Staatsrechtslehrer Carl Schmitt zu einem ausführlichen Interview über seine Sicht der NS-Zeit empfangen. Schmitt war einer der sehr wenigen Rechtsprofessoren, denen in der Bundesrepublik die Rückkehr auf einen Lehrstuhl nach 1945 wegen ihres Engagements im Dienste des NS-Regimes nicht gelungen war. Figge und Groh lebten für das Interview mehrere Tage in Schmitts Haus in Plettenberg mit Schmitt zusammen. Aus dem umfangreichen Mitschnitt der Gespräche entstand eine etwa einstündige Sendung im Südwestfunk, die am 6. Februar 1972 ausgestrahlt wurde. Der Deutschlandfunk sendete sie am 16. Oktober 1972. Gedruckt wurde der Text bei Piet Tommissen, in: „Over en in zake Carl Schmitt“, Brüssel 1975.

 

Jetzt haben die Herausgeber Hertweck und Kisoudis (1981) die im häuslichen Rahmen von Schmitts „San Casciano“ bei Kerzenlicht, gemeinsamen Mahlzeiten und  Moselwein geführten Gespräche nach den Tonbändern des SWR-Archivs originalgetreu in voller Länge publiziert. Sie gehen davon aus, dass es sich bei den Gesprächen um „ein auto-biographischen Dokument ersten Ranges“ handele. Es sei, so meinen sie, „in der Sicherheit des Schweigens“[1] geführt worden, „um ins unsichere Medium des Hörfunks eingespeist zu werden“ (S. 10). Schmitt wollte also nicht verschwiegen bleiben, er suchte, verbannt in die Isolation des Sauerlandes, die (schmerzlich entbehrte?) Öffentlichkeit. Der damals Dreiundachtzigjährige ergriff die Gelegenheit, noch einmal seine Sicht auf seinen Werdegang, seine Sicht der Rechtsentwicklung in der Weimarer und der NS-Zeit für die Öffentlichkeit darzustellen („Warum habe ich mitgemacht?“).

 

Die erläuternde Einleitung der Editoren umfasst 18 Seiten; es folgen die locker geführten Gespräche (79 S.), bei denen man sich erkennbar auch persönlich näher kam. Danach kommen 81 Seiten Anmerkungen der Herausgeber und schließlich ein Nachwort von Dieter Groh (4 S.).

 

Die Herausgeber haben die Gespräche nach den vier vorhandenen Tonbändern des Südwestfunks geordnet und mit den folgenden Titeln versehen: „Katholizismus und Verschwörung“, „Was steht in der Verfassung?“, „Warum hast Du mitgemacht?“ sowie „On s’engage, puis on voit“.

 

Wer die frühe Publikation des Interviews (1975) bei Piet Tommissen kennt, findet zu den Grundfragen nicht viel Neues. Aber in den Zwischentönen und in zahllosen Einzelfragen wird das Bild Schmitts durch die Langfassung der Gesprächsprotokolle farbiger und deutlicher. Die umfangreichen Anmerkungen leuchten oft die Hintergründe der zeitgeschichtlichen Zusammenhänge aus. Das verschafft dem Leser aus späteren Generationen Einblicke in die jeweiligen „Lagen“ und Entscheidungssituationen, die das Verständnis der Vorgänge erleichtern, oft auch erst ermöglichen. Denn Schmitt war, wie das Interview immer wieder bezeugt, nach eigenem Verständnis in seinen Wahrnehmungen und Entscheidungen ganz auf die jeweilige „Lage“ konzentriert.

 

Die zentrale Frage der Interviewer lautet „Warum haben Sie bei Hitler mitgemacht?“ Es ist seine eigene Frage „Warum hat Du eigentlich mitgemacht? Wie kam das?“ (S. 68ff., 86f.), die von da an vorder- und hintergründig alle Gespräche bis zum Ende (S. 107f.) durchzieht. Noch in seinem letzten Statement äußert er: „Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als wollte ich mich verteidigen…“ (!). Das widerspricht allerdings dem Gesamtduktus seiner Ausführungen in bemerkenswerter Weise. Der unbefangene Leser kann den gesamten Text kaum anders als den ebenso verzweifelten wie naiven und vergeblichen Versuch einer Verteidigung deuten. Eine Einsicht der eigenen Verstrickung in die Verbrechen des Regimes ist nicht zu erkennen.

 

Insoweit ist auch die Zurückhaltung der Interviewer und der Herausgeber bei den Fragestellungen und Kommentierungen der Aussagen Schmitts auffällig. Diese Zurückhaltung unterstützt die Strategie des Befragten, seine aktive Beteiligung an der Zersetzung der Weimarer Verfassung und am Aufbau einer totalitären Diktatur in einem milden Licht erscheinen zu lassen. Mit der einseitigen Darstellung der historischen Abläufe gelingt es ihm, seine staatsrechtlichen Beiträge zu dem Weg in den Unrechtsstaat als gleichsam zwangsläufig und unvermeidbar erscheinen zu lassen. Das war und ist eine geläufige Defensivstrategie nach Zusammenbrüchen totalitärer Systeme.[2] Dazu gehört auch die Taktik, im Nachhinein sich mit engen Kontakten zu hingerichteten Widerstandskämpfern zu schmücken.

 

Die Frage nach dem „Warum“ seines Engagements für Hitler drängt er zurück und ersetzt die Antwort darauf durch den Versuch, aus seiner Sicht zu schildern: „Wie kam es dazu?“ Es folgen umfangreiche Darlegungen zur historischen Entwicklung in der Weimarer Zeit, zur Rolle Hindenburgs, den er im Grunde als Hüter der Verfassung und der preußischen Tradition verehrte, und zum vermeintlich unausweichlichen, ihm von der „Lage“ aufgezwungenen Entschluss zum Mitmachen beim Aufbau des NS-Regimes. Gebildet wie immer, beruft er sich auf ein französisches Zitat[3]: „On s’engage, puis on voit“ („Erst engagiert man sich, und dann sieht man was los ist.“). Er will also nicht gewusst haben, auf welches Unrechtssystem er sich einließ, etwa mit seinem Eintreten für das Ermächtigungsgesetz (24. 3. 1933), für das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (7. 4. 1933), für das von ihm maßgeblich bearbeitete Reichsstatthaltergesetz (30. 1. 1935) und für die Blutschutzgesetze (15. 9. 1935). Von all dem ist in den Blättern vor ihm, die er bei den Fragen der Interviewer immer wieder zu Rate zieht, nicht die Rede.

 

Zu erwähnen ist die rührende Schilderung seines Entschlusses, der NSDAP beizutreten: „…das war Ende April (1933), da habe ich mich da (in Köln) angestellt, da war `ne große Schlange, und ich hab mich da einfach eintragen lassen.“

 

Die teilweise unsäglichen Auslassungen Schmitts in den zwölf Jahren der Hitler-Diktatur (etwa zu den deutschen Emigranten von 1933, zum 30. Juni 1934, seine Forderung nach Abschaffung des Grundsatzes „nulla poena sine lege“ (1936), seine geifernden antisemitischen Parolen vom Oktober 1936 und zu den „Großtaten des Führers“ in der 4. Auflage der „Völkerrechtlichen Großraumordnung“) bleiben in dem Interview entweder unkommentiert oder werden nicht kritisch hinterfragt. Die Sicht Schmitts, er habe immer nur reine Wissenschaft betrieben und den „Rechtsstaat schützen“ wollen, könnte danach fast als plausibel erscheinen.

 

Am Ende des 79 Seiten umfassenden Interviews formuliert er seine Sicht so: Ich habe die Frage beantwortet „Wie ist es gekommen?“ Diese Art Beantwortung der Frage „Warum haben Sie bei Hitler mitgemacht?“ hält er für eine Rechtfertigung seines Tuns im NS-Staat. Von da sei es nur ein ganz kleiner Schritt zu der anderen Frage: „Warum haben Sie beschlossen bei Hitler mitzuarbeiten?“ Er hat die Antwort bereit: „Ich habe nichts beschlossen. Hitler hat beschlossen.“(S. 108)

 

Die Gespräche von 1971 und die Äußerungen Schmitts, aber auch der Interviewer und Herausgeber in dem Buch sind vor dem Hintergrund der inzwischen publizierten Tagebücher Schmitts aus den Jahren 1930-1934 zu lesen.[4] Das zeigt das Ausmaß der kosmetischen Verschönerungen in vielen Bereichen des Bandes.

 

Lesenswert ist auch das Nachwort von Dieter Groh 2010, eines der Interviewer von 1971. Es ist ein Beispiel dafür, wie der Zeitablauf die Erinnerungen an die damaligen Vorgänge verklären kann. Die Behauptung Schmitts, er wolle sich nicht entschuldigen, wird weder in der Einleitung noch in den Anmerkungen oder im Nachwort in den realen Zusammenhang gestellt. Groh war auch zeitweilig Teilnehmer der Ebracher Seminare, die Ernst Forsthoff, der bedeutende Schüler Schmitts, von 1957-1971 jährlich im Herbst als „private“ außeruniversitäre Begegnung seiner Generation mit der jüngeren Generation veranstaltete.[5] Hinter der Veranstaltung könne u. a. die Idee Forsthoffs gestanden haben, um Carl Schmitt eine Anzahl jüngerer Wissenschaftler aus allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu versammeln, die dann seine Lehren weitergeben könnten.[6] . Groh meint zum Verlauf und den Zielen der Tagungen: „Als die Ebracher Seminare dann zu ‚schmittianisch‘ wurden,  ….habe ich mich sehr schnell abgeseilt. Es gab aber keinerlei Indoktrinierungsversuche, der Ton war völlig frei in Ebrach.“

 

Dazu lohnt ein Blick auf die Liste der Referenten. Es sprachen dort u. a. Arnold Gehlen, Werner Conze, Franz Wieacker, Joachim Ritter, Hubert Schrade, Pascual Jordan. Allen genannten gemeinsam war ihr literarisches Engagement für das NS-Regime. Die meisten hatten mit dem Zusammenbruch ihre Lehrstühle verloren und mussten, wie auch Forsthoff,  längere „Warteschleifen“ in Kauf nehmen. Sie bekamen hier erstmals Gelegenheit, außerhalb des universitären Rahmens vor einem Kreis jüngerer, begabter Wissenschaftler aufzutreten. In Ebrach fanden die Gespräche weniger in der Sicherheit des Schweigens als in der Gewissheit der verschwiegenen Schicksalsgenossen statt.

 

Auch mit dem Schweigen hatte es dabei, wie D. van Laak im Gegensatz zu D. Groh feststellt, seine eigene Bewandtnis. D. Groh, wie zitiert: „…der Ton war völlig frei in Ebrach.“ D. van Laak: „Sich den Eingeladenen der älteren Generation in entlarvender Weise zu nähern, wurde mißbilligt. Carl Schmitt, ‚inquisitorischen‘ Avancen gegenüber offenbar zunehmend empfindlich, hätte seine Teilnahme sicherlich verweigert, wären Absichten dieser Art auch nur latent gewesen.“[7] Mit der von Groh behaupteten Freiheit des Tons war es in Ebrach (und ähnlich an vielen westdeutschen Rechtsfakultäten) nicht weit her. Wer in Ebrach Thesen von Schmitt in Frage stellte oder kritisierte, wie das der Historiker August Nitschke einmal wagte, verfiel dem Tadel und der Ausladung durch die Veranstalter.[8]

 

Die immense Fleißarbeit der Herausgeber bei der Zusammenstellung des Materials für den Anmerkungsapparat von 81 Druckseiten (also mehr als der Text des  dreitägigen Interviews!), kann hier nur angedeutet werden. Manches erscheint erhellend, vieles überflüssig für die behandelten Themen. Die Sammel- und Publikationsfreude der Autoren von „Schmittiana“, wie die Gemeinde ihre Schriften nennt, ist ein eigenes, bisher kaum beachtetes Phänomen. Sie dient sicher auch dazu, das Thema lebendig zu erhalten, auch wenn es für die Probleme der Gegenwart und Zukunft wenig Bedeutung hat. Das Nachwort von D. Groh endet mit dem Satz: „Am Anfang war es schwer, etwas über Carl Schmitt zu bringen, eine Zeitlang war es schwer, etwas gegen Carl Schmitt zu bringen, und dann war es schwer, etwas für Carl Schmitt zu bringen. Heute ist es schwer, etwas ohne Carl Schmitt zu bringen.“

Für wen war das jeweils schwer und warum?

 

Konstanz                                                                                Bernd Rüthers



[1]  Bezug: Dirk van Laak, In der Sicherheit des Schweigens, Berlin 1993.

[2]  B. Rüthers, Geschönte Geschichten – Geschonte Biographien, Sozialisationskohorten in Wende-literaturen, Tübingen 2001, eine Analyse zu den Zusammenbrüchen des NS-Staates und es SED-Staates.

[3]  Zu finden bei Georg Lukács, Lenin – Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken, Wien 1924, der es Napoleon I. zuschreibt.

[4]  Carl Schmitt, Tagebücher 1930-1934, Herausgegeben von Wolfgang Schuller in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler, Berlin 2010.

[5]  Vgl. D. van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens, Berlin 1993, S. 200-208.

[6]  D. Groh, mit Verweis auf D. van Laak, Nachwort S. 192.

[7]  D. van Laak. Gespräche…, S. 205.

[8]  B. Rüthers, Entartetes Recht, 3. Aufl., dtv wissenschaft, München 1994, S. 170. Diese Tradition der Ausblendung peinlicher Fragen und Themen setzte sich auch in der Anhängerschaft fort. B. Schlink (Vergangenheitsschuld – Beiträge zu einem deutschen Thema, 3., erweiterte Auflage, Zürich 2007, 1. und 2. Auflage mit Fußnoten bei Suhrkamp, Frankfurt a. M.) schildert eindrücklich das Klima in der „öffentlich-rechtlichen Zunft“. Es galt taktlos, wenn ein Student in einem Seminar bei seinem Lehrer E. W. Böckenförde den eingeladenen Referenten E. R. Huber, Verfasser des damals maßgebenden Lehrbuches zum „Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches“ (2. Aufl. 1939), nach seinen Schriften vor und nach 1933 fragte.