Rousso,
Henry, Frankreich und die „dunklen Jahre“. Das Regime
von Vichy in Geschichte und Gegenwart. Aus dem Französischen von Brüll,
Christoph (= Jena Center Geschichte des 20.
Jahrhunderts, Vorträge und Kolloquien 8).
Wallstein, Göttingen 2010. 190 S. Besprochen von Martin Moll
Das hier
vorzustellende, sorgfältig ins Deutsche übersetzte Bändchen stellt keinen Text
aus einem Guss dar, sondern vereinigt mehrere – teils ganz neue, teils schon
etwas ältere – Beiträge des 1954 geborenen Pariser Historikers Henry Rousso.
Die Herkunft ist nicht immer angegeben; der erste von vier Beiträgen stellt die
schriftliche Fassung eines Vortrags dar, den Rousso 2009 als Gastprofessor am
Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts gehalten hat. Die übrigen sind in
einem französischen Kontext entstanden, doch sind die teilweise recht
detailliert referierten Zusammenhänge der dortigen Diskussion auch für den
deutschsprachigen Leser verständlich beschrieben; auf jeden Fall erhält man faszinierende
Einblicke in die in mancherlei Hinsicht doch ziemlich eigenwillige historische
Debattenkultur Frankreichs.
Das von
Marschall Philippe Pétain (der trotz zahlreicher Nennungen seltsamerweise im
Personenverzeichnis nicht aufscheint) geführte Regime von Vichy (benannt nach dem
südfranzösischen Badeort, der als Regierungssitz diente) steht als Chiffre für
die während der deutschen Besatzung Frankreichs 1940-1944 betriebene
französische Staatskollaboration, der – wie sich herausgestellt hat – gar nicht
so wenige Franzosen eine Chance zu geben bereit waren. Lange weitgehend
verdrängt, setzte sich erst in den 1980er Jahren die Erkenntnis durch, dass die
Grande Nation keineswegs nur aus Widerstandskämpfern gegen die Okkupanten
bestand. In den letzten drei Jahrzehnten fand eine Reihe spektakulärer Prozesse
gegen hochrangige französische Kollaborateure statt, die den Wechsel der
Perspektive, insbesondere die Anerkenntnis einer gewissen Mitschuld Frankreichs
am Holocaust und anderen Verbrechen, nachhaltig vorangetrieben haben.
Die
kürzeren drei ersten Teile behandeln am Rande die Entwicklung der – vor allem,
aber nicht nur – französischen Historiographie zum Komplex Vichy und die
Wahrnehmung des von Rousso schon vor Jahren als Vichy-Syndrom bezeichneten
Themas in der Öffentlichkeit. In Frankreich gab und gibt es eine breite, weit
rechts angesiedelte Strömung, die Rousso als Negationismus bezeichnet (womit im
Deutschen sowohl sogenannte Revisionisten als auch Holocaust-Leugner gemeint
sind). Der Autor zeigt nicht nur auf, in welchem Umfang derartige Stimmen im
intellektuellen und akademischen Milieu Frankreichs Fuß fassen konnten, er
bietet hierfür auch Erklärungsansätze. Der vierte und längste, rund die Hälfte
des Bandes einnehmende Text hat stark autobiographischen Charakter, indem er
die Entwicklung Roussos zum führenden Historiker der Besatzungszeit in
Frankreich ebenso selbstkritisch wie spannend darlegt.
Den
Rechtshistoriker werden vor allem jene Passagen interessieren, die sich mit den
justiziellen „Säuberungen“ im Frankreich der unmittelbaren Nachkriegszeit wie
auch mit den neueren Strafprozessen wegen Kriegsverbrechen beschäftigen.
Darüber hinaus bietet der Verfasser eine Fülle ungemein hellsichtiger Einblicke
in das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Recht bzw. Rechtsprechung: Mit
kritischem Unterton zeigt er auf, in welchem Ausmaß die moderne, massenmedial
vermittelte Erinnerungskultur und Geschichtspolitik dazu neigen, historische
Sachverhalte und deren Bewertung per Parlamentsbeschluss zu normieren. Im Zuge
historischer Kontroversen mache sich, so Rousso, mehr und mehr die Neigung
bemerkbar, die Gerichte und/oder den Gesetzgeber als Schiedsrichter anzurufen,
was zu einer Reihe anachronistischer legistischer Regelungen geführt habe.
Nicht allein wegen dieses hier scharfsinnig analysierten, globalen Phänomens
bietet der konzise Band mit seinen klugen Urteilen auch jenen Lesern viel, die
sich nicht ausschließlich für das immer noch nicht bewältigte Vichy-Syndrom
Frankreichs interessieren.
Graz Martin
Moll