Rosenblum, Warren, Beyond the Prison Gates. Punishment & Welfare in Germany, 1850-1933 (= Studies in Legal History). The University of North Carolina Press, Chapel Hill 2008. XII, 326 S. Besprochen von Heinz Müller-Dietz.

 

Die Untersuchung Warren Rosenblums ist einer Fragestellung gewidmet, die in dieser Form bisher, wenn überhaupt, nur wenig oder am Rande thematisiert worden ist. Sie spürt Zusammenhängen zwischen der Kriminalpolitik sowie fürsorgerischen und wohlfahrtsstaatlichen Tendenzen in Deutschland in den verschiedenen Epochen von 1850 bis 1933 nach. Der Verfasser will anhand der kriminalpolitischen Praxis, insbesondere von Konzepten privater Fürsorge und Wohlfahrt, die in den Bereichen der Justiz, des Strafvollzugs und der Strafentlassenenhilfe verwirklicht worden sind, den Nachweis dafür erbringen, welchen Einfluss in jenem Zeitraum liberale und christliche Vorstellungen auf den staatlichen und gesellschaftlichen Umgang mit Straftätern genommen haben. Insgesamt wollten sie an die Stelle degradierender und infantilisierender Formen der Bestrafung aus humanitären wie präventiven Gründen sozialintegrative Reaktionen und Hilfen setzen. Rosenblum knüpft dabei nicht nur an die Bestrebungen und Tätigkeit der Vereine und Organisationen der Straffälligenhilfe, die ja im 19. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung gewonnen haben, sondern auch an Einrichtungen wie die Soziale Gerichtshilfe an, die in der Weimarer Zeit die Gerichte mit Informationen über Tatverdächtige und Straftäter mit Hilfen zur sozialen Eingliederung unterstützt haben. Die Verflechtungen und Querverbindungen, die er zwischen Justiz, Strafvollzug sowie Wohlfahrtseinrichtungen und Wohlfahrtsprojekten an praktischen Beispielen aufzeigt, geben ein anderes Bild von sozialer Kontrolle und Kriminalpolitik als das von der neueren Forschung vielfach vermittelte. Damit blendet Rosenblum kriminalpolitische Reformbestrebungen in Politik und Wissenschaft keineswegs aus; sie stehen aber nicht im Fokus und Zentrum seiner Darstellung.

 

Wie sich die deutsche Kriminalpolitik im „Dritten Reich“ und danach bis heute weiterentwickelt hat, ist zwar nicht Gegenstand der Studie. Doch zieht der Verfasser ideengeschichtliche wie praktische Linien, die inhumane Tendenzen des NS-Staates überlebt haben, bis zur Gegenwart aus. Die bis heute reichenden sozialintegrativen Bemühungen um Straftäter begreift er als Ausdruck und Weiterwirken jener fürsorgerischen und wohlfahrtsstaatlichen Gedanken, die für ein solidarisches Zusammenleben eintreten. In diesem Sinne konstatiert Rosenblum – nicht zuletzt in seiner abschließenden Betrachtung zum Schluss – die erhebliche Unterschiede zwischen der deutschen und der US-amerikanischen Kriminalpolitik. Sie manifestieren sich ihm zufolge namentlich in weit auseinanderdriftenden Gefangenenraten. Während in den USA im Jahre 2003 auf 100.000 Amerikaner 700 Strafgefangene entfielen, waren es in Deutschland lediglich 100. In Deutschland sei denn auch eine relativ milde Strafpraxis zu verzeichnen. Inhaftierungen blieben zunehmend gefährlichen Straftätern vorbehalten, während für andere Straffällige eine ganze Reihe ambulanter Rechtsfolgen sowie mehr oder minder spezieller sozialer und therapeutischer Hilfen zur Verfügung stünden.

 

Mit diesem Ansatz setzt sich Rosenblum deutlich von jenen Werken der neueren Historiographie ab, welche die Entwicklung der deutschen Kriminalpolitik im Untersuchungszeitraum vorwiegend als eine Geschichte der Medikalisierung sowie wachsender staatlicher Kontrolle und Repression deuten. Damit übt er vor allem an einschlägigen Darstellungen, wie sie etwa Evans (1988), Lüdtke (1992), Wetzell (1996, 2000) und Ch. Müller (2004) vorgelegt haben, mehr oder minder starke Kritik. Sie gilt auch geschichtlichen Studien, die in jener Entwicklungsphase wissenschaftlich ausgebildete Experten sowie den Staat als Träger der Sozialpolitik kennzeichnen (z. B. Weindling 1988, 1989) oder deren Wandel als einen Prozess der „Verwissenschaftlichung, Verstaatlichung und Professionalisierung“ begreifen (Sachsse/Tennstedt 1988). Freilich hat sich Rosenblum mit der gleichfalls anders ausgerichteten rechtsstaatlichen Perspektive Nauckes nicht auseinandergesetzt.

 

Der Autor hat sowohl das zeitgenössische kriminalpolitische und Strafvollzugsschrifttum als auch die einschlägige Sekundärliteratur in einem beachtlichen Umfang verwertet. Herangezogen hat er in entsprechender Weise Beiträge zur Geschichte der (kirchlichen) Sozialfürsorge und der Wohlfahrtsorganisationen. Auch interdisziplinäre Werke, die auf interdisziplinärer Vermittlung zeitgeschichtlicher literarischer und juristischer Texte fußen – wie etwa Jörg Schönerts Standardwerk „Erzählte Kriminalität“ – sind in die Analyse einbezogen. Eine besonders gewichtige Rolle spielen – nicht zuletzt vom theoretischen Ansatz des Autors her – auch Studien zur Sozialreform und zum Wohlfahrtsstaat im Untersuchungszeitraum. In welchem Umfang Rosenblum - der als Gast des Deutschen Akademischen Austauschdienstes Gelegenheit hatte, eine ganze Reihe von Archiven vor Ort (in Berlin, Potsdam, Dresden, Bethel und Bielefeld) zu besuchen – Quellen und Literatur benutzt hat, lassen Anmerkungsapparat und Bibliographie erkennen, die einen erheblichen Teil des Werkes beanspruchen (233-301).

 

Rosenblum hat seinen komplexen Stoff – der ja die sozial- wie kriminalpolitische Entwicklung und die Institutionengeschichte umfasst - auf insgesamt acht Kapitel verteilt. Im ersten Kapitel skizziert er die Entwicklung vom liberalen Strafrechtsverständnis Feuerbach’scher Prägung bis hin zu den teils pietistisch, teils sozial inspirierten Ansätzen der Gefängnisreformbewegung, die namentlich in der Gestalt, die ihnen Wichern gegeben hat, erheblichem Widerstand in Staat und Justiz begegneten. Das zweite Kapitel befasst sich mit Maßnahmen sozialer Wohlfahrt, die der gesellschaftlichen Integration Straffälliger sowie gefährdeter Frauen und Mädchen im Kaiserreich dienten. Als Beispiele fungieren insbesondere die Schutzaufsicht über entlassene Gefangene und die Arbeiterkolonien, die sich gleichsam zu einer Zufluchtsstätte für arbeitswillige Personen entwickelten, die nicht zuletzt Opfer sozialer Umstände waren.

 

Im dritten Kapitel setzt sich Rosenblum mit dem um die Jahrhundertwende eingehend und kontrovers diskutierten Konzept der Verbannung Krimineller in Strafkolonien auseinander. Als utopisch erscheinender Traum, der darin eine umfassende Lösung des Verbrecherproblems sah, scheiterte seine Verwirklichung bekanntlich an den Realitäten in Staat und Gesellschaft. Das vierte Kapitel ist einem kulturell herausragenden Ereignis, dem Lebensschicksal des „Hauptmanns von Köpenick“, gewidmet. Es signalisiert das Bedürfnis, ja die Notwendigkeit, Wege zur sozialen Integration ehemaliger Straftäter einzuschlagen, für diese einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Dieses Wohlfahrtskonzept gewann denn auch vor dem ersten Weltkrieg – nicht zuletzt unter dem Einfluss der Gefängnisgesellschaften – zunehmend an praktischer Bedeutung. Das fünfte Kapitel hat die kriminalpolitische Entwicklung während des ersten Weltkriegs zum Gegenstand. Der Autor konstatiert insoweit eine Art „Burgfrieden“, der zwischen den Verfechtern sozialintegrativer Maßnahmen und den Vertretern von Staat und Wirtschaft zustandekam, die sich militärischen Anforderungen beugten.

 

Im Zentrum des sechsten Kapitels steht eine besondere Institution, das sog. Bielefeld-System Bozis, das eine mehr oder minder enge Verbindung zwischen privaten Vereinigungen für Schutzaufsicht und Strafgerichten herstellte. Diese Wohlfahrtsorientierung zog dem Verfasser zufolge vor allem zwei bedeutsame Konsequenzen nach sich: Zum einen sicherte sie die Autorität sozialer Interventionen bei Prostituierten, Vagabunden und ehemaligen Gefangenen. Zum anderen lenkte sie den Blick der Gerichte in stärkerem Maße als bisher auf soziale Ursachen der Kriminalität und die Bedürfnisse gesellschaftlicher Integration von Straftätern sowie kriminell und sozial gefährdeter Personen. Das siebte Kapitel spürt dem Ausbau der Sozialen Gerichtshilfe, die schließlich in allen Ländern der Weimarer Republik etabliert wurde, sich freilich regional in Funktion und Organisation unterschiedlich entwickelte. So gab es justizeigene Gerichtshilfen und solche, die in Wohlfahrtsbehörden eingegliedert waren. Sie wirkten auch in verschiedener Weise an Strafprozessen mit. Häufig waren ehrenamtliche Kräfte an der Tätigkeit dieser Einrichtungen beteiligt. Die Gerichtshilfen arbeiteten mehr oder minder eng mit der Justiz zusammen. Sie übermittelten den Gerichten auf der Grundlage der Erforschung der persönlichen und sozialen Verhältnisse Berichte über Beschuldigte und Straffällige. Rosenblum zufolge kam der Gerichtshilfe im Ganzen eine zweifache Bedeutung zu: Zum einen suchten Richter und Staatsanwälte mit Hilfe dieser Institution ihre Kontrolle über Schutzaufsicht und Bewährung zu wahren. Zum anderen wurde in ihr von Reformern ein Mittel zu weitergehenden Veränderungen der Kriminalpolitik gesehen.

 

Im achten Kapitel analysiert der Autor die Krise der Strafrechtsreform vor dem Hintergrund grundlegender weltanschaulicher und politischer Konflikte in der Weimarer Republik. Seine Deutung der ganzen kriminalpolitischen Entwicklung stützt er in der Hauptsache auf jene Aspekte, die denn auch Anpassungsprozesse nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Jahre 1933 erklärten. So hätten linksgerichtete Organisationen in wachsendem Maße die Sichtweise christlicher Sozialreformer übernommen. In der Endphase der Republik hätten Reformer in den Zielen rassischer Hygiene zunehmend einen Ausweg aus der Krise der Reformbewegung erblickt. Im Konzept umfassender Persönlichkeitserforschung von Straftätern nach biologischen Merkmalen hätte man eine Möglichkeit gesehen, die Kriminalpolitik in den Dienst sozialkonstruktiver Reaktionen auf das Verbrechen zu stellen. Insofern sei der Triumph der Kriminalbiologie Ausfluss des Bestrebens, die soziale Orientierung der Justiz wiederzubeleben. Mit dieser Sichtweise – die er mit affirmativen Annäherungen bisheriger Reformer an NS-typische Tendenzen begründet – setzt sich Rosenblum freilich einmal mehr vom „mainstream“ zeitgeschichtlicher Forschung ab.

 

Den acht Kapiteln ist eine überaus informative Einführung vorangestellt, in welcher der Verfasser nicht nur seinen Forschungsansatz darlegt und seine Befunde zusammenfassend wiedergibt, sondern auch die verschiedentlich recht gewichtigen Unterschiede zwischen dem heute weitgehend anzutreffenden Stand der Historiographie und seiner eigenen Deutung der geschichtlichen Entwicklung analysiert. Dadurch wird der Weg deutlich, den die deutsche Kriminalpolitik nach seinem Verständnis dank sozialer, wohlfahrtsstaatlicher Strömungen von Abschreckung, Repression und (staatlicher wie gesellschaftlicher) Ausgrenzung der Straftäter in der Zeit zwischen 1850 und 1933 zu sozialintegrativen Ansätzen – die sowohl negative Folgen von Kriminalstrafen zu vermeiden als auch die Zusammenarbeit von Justiz und Wohlfahrt zu stärken suchten – zurückgelegt hat. Es ist – ungeachtet der Schatten, die sich immer wieder etwa in Gestalt strafrigoristischer Tendenzen auf diese Bestrebungen gelegt haben – das Bild einer „Reform von unten“, einer kriminalpräventiven Praxis, das der Verfasser von dieser Entwicklung zeichnet. Sie reicht von christlichen Bemühungen der Inneren Mission in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (z. B. Friedrich von Bodelschwingh, Johann Hinrich Wichern) bis hin zum Konzept der Sozialen Gerichtshilfe des Bielefelder Richters Alfred Bozi.

 

Freilich spart der Autor die problematischen, nicht zuletzt retardierenden und regressiven Momente dieses Verlaufs keineswegs aus. Er erblickt sie beileibe nicht allein in der damals wie heute intensiv diskutierten Frage, inwieweit es mit sozialintegrativen Mitteln möglich ist, Straftäter zu resozialisieren. Ihn beschäftigt nicht minder das nach wie vor aktuelle Problem, ob und inwieweit es gelingen kann, die Ziele öffentlicher Sicherheit und Resozialisierung Straffälliger miteinander in Einklang zu bringen. Es geht dabei auch um zeittypische kriminalbiologische Tendenzen, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum „Dritten Reich“ einen mehr oder minder starken wissenschaftlichen Rückhalt erfuhren, sowie um die rechtsstaatliche Problematik, die in der außergerichtlichen, gesellschaftlichen Einwirkung auf Straffällige liegt. Gerade die Favorisierung eines solchen, hinreichender rechtlicher Kontrolle entbehrenden Ansatzes hat nach Meinung des Verfassers der Kritik mancher Vertreter der sozialen, wohlfahrtsstaatlichen Bewegung nach 1933 an der polizeistaatlichen Orientierung des NS-Systems den Wind aus den Segeln genommen.

 

Insgesamt hat Rosenblum mit seiner materialreichen und informativen Studie neue Akzente in der Analyse der deutschen Kriminalpolitik zwischen 1850 und 1933 gesetzt. Namentlich seine forschungskritischen Thesen hinsichtlich der Deutung der ganzen Entwicklung dürften einigen Widerhall auslösen. In jedem Fall hat der Verfasser durch seinen Rückgriff auf sozialpolitisch und wohlfahrtsstaatlich gegründete kriminalpolitische Phänomene – die mancherorts übersehen oder vernachlässigt worden sind – den einschlägigen Diskurs bereichert.

 

Saarbrücken                                                                           Heinz Müller-Dietz