Ritter, Gerhard A., Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 3. Aufl. Oldenbourg, München 2010. XII, 281 S. Besprochen von Markus Raasch.
Gerhard A. Ritters Standardwerk liegt nunmehr in dritter Auflage vor. Text, Fußnotenapparat und Literaturverzeichnis wurden dabei in Relation zur 1990 erschienenen zweiten Auflage unverändert gelassen und lediglich um ein Nachwort ergänzt.
Die Stärken des Buches sind bekannt: Der vermutlich verdienteste Kenner der Materie umreißt Genese, Entwicklungsprozesse, Charakteristika und Zukunftsperspektiven des deutschen Sozialstaates im internationalen Vergleich. Er äußert sich zunächst ausführlich zu terminologischen Fragen, wobei er u. a. den der Tradition des aufgeklärten Absolutismus verpflichteten Begriff des „Wohlfahrtsstaates“ vom ihm historisch präziser erscheinenden „Sozialstaat“ abgrenzt. Sodann veranschaulicht er dessen Ausprägung als Derivat der modernen Industriegesellschaft, welche die überkommene einerseits christlich-karitativ geprägte, andererseits seit dem 16. Jahrhundert sich zusehends verstaatlichende Armenfürsorge zum Anachronismus werden lässt. Es wurden neue, umfassendere Formen sozialer Sicherung nötig, die sich etwa im Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung manifestierten und vor allem in Gestalt der Sozialversicherung bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs fast flächendeckend in Europa institutionalisierten. Für die Zeit zwischen 1918 und 1945 beschreibt Ritter u. a. im Seitenblick auf die USA die weitere Expansion sozialer Sicherungssysteme. Zugleich führt er die ersten signifikanten Krisenerscheinungen des Sozialstaates vor Augen, die er etwa am Versagen seiner Institutionen während der Weltwirtschaftskrise, aber auch an der machtpolitischen Instrumentalisierung durch den Nationalsozialismus festmacht. Der Sozialstaatsentwicklung zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums attestiert Ritter vor allem drei Kennzeichen: zum ersten, ausgehend vom britischen Beveridge-Plan und angetrieben von der reüssierenden Auffassung, dass soziale Sicherheit ein Grundrecht markiert, ein frappierendes Wachstum; zum zweiten Tendenzen zur Konvergenz in den westlichen Industrienationen, im Hinblick auf die Dynamisierung der Leistungen oder den Siegeszug eines egalitären Universalismus, der beispielsweise im gleichen Anspruch auf medizinische Versorgung für alle Mitglieder gesetzlicher Krankenkassen zum Ausdruck kommt; kontrapunktisch benennt Ritter zum dritten die weiter bestehenden, sich partiell gar verschärfenden Unterschiede zwischen den verschiedenen Sozialstaatsausprägungen, etwa in Bezug auf den Bereich Mitbestimmung, die Organisation und Höhe der Sozialleistungen und nicht zuletzt die dem System zugrundeliegenden Maximen. In toto legt er ein klares Bekenntnis zum Sozialstaat ab, wobei er für die Zukunft die Diskussion über soziale Homogenisierung, zumal in Europa, als ebenso schwierig wie notwendig ansieht und zugleich die Anpassung des Sozialstaates an gesellschaftlichen Wandel im Spannungsfeld von Freiheits- und Sicherheitsbedürfnis als fortwährende politische Obliegenheit betrachtet.
All dies präsentiert Ritter mit stupendem Wissen hinsichtlich des Forschungstandes; die Auswahlbibliografie besticht durch Ausführlichkeit (bezogen auf das Jahr 1990), der Anmerkungsapparat durch Substanz ((Fußnote 48 der Einleitung erstreckt sich z. B. über 4 Seiten). Zudem zeigte er sich erfolgreich bemüht, die Gräben zwischen Struktur- und Ideengeschichte zuzuschütten, indem er etwa den Blick auch auf die wichtigsten Vordenker des modernen Sozialstaates richtet. Dass je näher die Darstellung der Gegenwart rückt, desto mehr von Zahlen und weniger von Ideen und Konzepten die Rede ist, spricht wohl weniger gegen den Autor als die Akteure des Sozialstaates.
Unterbelichtet bleiben in der von Ritter als zu weiteren Forschungen angelegten Überblicksskizze die politischen Hintergründe der Sozialstaatsentwicklung, seine gesellschaftlich-kulturelle Praxis jenseits formaler Vorgaben sowie der der jeweiligen Zeitepoche eigentümliche Diskurs über Wirkungsmächtigkeit, Akzeptanz und Perspektiven des Sozialstaates. Überdies sorgt der Umstand, dass die Betrachtung der verschiedenen nicht-deutschen Staaten nicht systematisch, sondern lediglich punktuell erfolgt, mitunter für Unübersichtlichkeit und in methodischer Hinsicht für Irritationen.
Das Nachwort schließlich sucht die Zeit zwischen 1990 und 2010 ins Blickfeld zu nehmen und wendet sich den Problemen des deutschen Sozialstaates im internationalen Vergleich zu. Ritters Analyse ist nüchtern und präzise: Er konstatiert fünf Herausforderungen, welche die Diskussion über die Zukunftschancen des Sozialstaates in zunehmendem Maße prägen. Erstens das durch den Untergang des Sowjetkommunismus und die Deregulierung der Finanzmärkte forcierte Phänomen der Globalisierung; zweitens die nationalen Gestaltungsspielraum stetig einengende Europäisierung; drittens den Wandel der Arbeitswelt, der in erster Linie eine Individualisierung der Arbeitsverhältnisse impliziert; viertens die Alterung der Gesellschaft, die nach Ansicht Ritters langfristig vor allem in einer zunehmenden Spaltung des Arbeitsmarktes zwischen einer raren Anzahl qualifizierter und einem kaum zu integrierenden Quantum unqualifizierter Arbeitskräfte, u. a. aus Migrantenkreisen, evident werden wird; fünftens nennt Ritter die hohen Kosten der deutschen Einheit.
Reformvorschlägen räumt der Autor ungleich weniger Raum ein als der Problemanalyse. Zur Aufrechterhaltung der Alterssicherung postuliert er ein verbessertes Bildungssystem, einen früheren Eintritt in Berufsleben und eine Heraufsetzung des Rentenalters sowie eine Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Frauen. Zur Zukunft des Gesundheitswesens äußert er sich nicht. Dank politischer Reformen sieht er im Ganzen den deutschen Sozialstaat, den er als eine Mischform aus dem universalistischen skandinavischen Typ und dem konservativ-korporativen Wohlfahrtsstaat identifiziert, ebenso wenig wie diejenigen der anderen westlichen Industrienationen in einer dramatischen Krise.
In Relation zum Vorangehenden fällt der ergänzende Aufsatz erkennbar ab: Die Ausführungen sind inhaltlich vorhersehbar, der Anmerkungsapparat nimmt sich deutlich schmaler aus und vor allem kann die Darstellung dem Titel kaum gerecht werden. Die internationale Vergleichsdimension kommt mithin viel zu kurz. So notwendig und gewinnbringend also die Lektüre des Ritterschen Klassikers auch ist, so erscheint doch fraglich, ob der Interessierte dafür unbedingt die dritte Auflage heranziehen muss.
Eichstätt Markus Raasch