Rinke, Stefan, Revolutionen in Lateinamerika. Wege in die Unabhängigkeit 1760-1830. Beck, München 2010. 392 S., 19 Abb., 7 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Wenn im Jahr 2010 die Dekolonisation Lateinamerikas monographisch einer näheren Betrachtung unterzogen wird, so hat das seinen guten – nämlich jubilarischen – Grund im bicentenario: Denn vor gut 200 Jahren vollzogen sich in der Südhälfte des amerikanischen Kontinents jene umwälzenden Veränderungen, die heute gemeinhin als Geburt der Unabhängigkeit und nationalen Eigenständigkeit der südamerikanischen Staatenwelt gefeiert werden.

 

Mit Stefan Rinke hat sich ein ausgewiesener Südamerika-Experte des Themas angenommen, der sich seine Sporen beim Doyen dieses Forschungsbereichs, Hans-Joachim König, verdient und diesem auch die vorliegende Arbeit gewidmet hat. Geboren 1965, wurde er bei König in Eichstätt promoviert und 2003 für neuere und neueste Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte Lateinamerikas habilitiert; seit 2005 lehrt er als Professor am Lateinamerika-Institut sowie am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, wo er bisher vor allem mit Studien zur Geschichte Chiles, einschlägigen Fachbeiträgen im Rahmen der „Enzyklopädie der Neuzeit“ und einer „Geschichte Lateinamerikas: Von den frühesten Kulturen bis zur Gegenwart“ (2010) an die Öffentlichkeit getreten ist.

 

Die hier zu besprechende Arbeit berichtet im klassischen Ton historischer Erzähltradition von den „wenig geradlinigen und oft widersprüchlichen Revolutionen […], mit denen die ersten europäischen Kolonialreiche der Neuzeit […] zu Fall kamen; sie will zeigen, „welche Faktoren ab etwa 1760 diesen Zerfall beschleunigten, wie sich die Unabhängigkeitsbewegungen in Lateinamerika entfalteten und welche Probleme sich um 1830 den neuen Staaten stellten“, und rückt die als zusammengehöriger, in transatlantische Verflechtungen eingebundener Prozess verstandenen Umbrüche in Saint-Domingue/Haiti, dem spanischen Amerika und in Brasilien ins Zentrum der Betrachtung (S. 9f.). Dabei bildet die Ereignisgeschichte, unterfüttert von sozioökonomischen und gesellschaftspolitischen Determinanten, das leitende narrative Ordnungsmuster.

 

Der Verfasser hält unter anderem fest, dass die „De-facto-Autonomie“ der Kolonien bereits am Ende des 17. Jahrhunderts „in vielen Bereichen unübersehbar“ geworden sei; „sie schuf Bewegungsräume und damit einen gewissen Interessensausgleich für die ständig steigende Zahl der Kreolen, die nach Anerkennung, Einfluss und Macht strebten“ (S. 33). Diese in der Neuen Welt geborenen Abkömmlinge der Eroberer und Kolonisatoren beriefen sich auf naturrechtliche Grundsätze, wenn sie 1771 die einseitige Ämtervergabe an die Europa-Spanier, an die sogenannten peninsulares, kritisierten, die „der Natur nach … Ausländer in Amerika“ seien, sei doch die Liebe zum Geburtsort unabdingbare Voraussetzung für eine gute Amtsausübung, wogegen es dem Landfremden nicht gegeben sei, dem Gemeinwohl zu dienen (S. 48). Die Revolutionen in Nordamerika und in Frankreich wurden von den Kreolen zwar rezipiert, doch standen die Aufstände, die sich in den iberischen Reichen in diesem Zeitraum abspielten, weder in einem unmittelbaren Kausalzusammenhang mit diesen, noch waren die Rebellionen direkte Vorläufer der späteren Unabhängigkeitsbewegung. Vor allem die Idee der Freiheit in Form der Forderung nach Emanzipation der nicht privilegierten Gesellschaftsschichten fand wenig Anklang in der kreolischen Elite. Die haitianische Revolution (1789-1804), ein „äußerst heterogene(r) Prozess mit vielschichtigen Ursachen“, wurde mit der Überwindung der Sklaverei und der Durchsetzung von Staatsbürgerschaft und Menschenrechten über ethnische Grenzen hinweg zum „Wendepunkt der Geschichte“, zeigte sie doch „jeder Sklaven haltenden Gesellschaft der Neuen Welt ihr mögliches Schicksal auf“ (S. 115).

 

Mit dem allgemeinen Niedergang der spanischen Macht - deutlich markiert im Verlust ihrer Armada 1805 in der Seeschlacht von Trafalgar - verbunden waren zugleich verstärkte Bemühungen der Engländer, „die spanische Herrschaft in den Kolonien auszuhöhlen“ (S. 123), ein Ziel, das sie paradoxer Weise selbst mit militärischen Misserfolgen erreichten, als städtische Milizen 1806/07 die Briten bei Buenos Aires erfolgreich abwehrten, was „unter den Kreolen Amerikas große Begeisterung aus(löste)“ und „ihr Selbstbewusstsein (steigerte), denn damit war vor aller Welt der Nachweis erbracht, dass die oft als minderwertig angesehenen Menschen Amerikas besser imstande waren, der Supermacht England zu trotzen, als die Spanier selbst“ (S. 124). Als 1808 Regent Karl IV. und dann auch sein Sohn Ferdinand VII. unter napoleonischem Druck zum Verzicht auf die Regierungsgewalt in Spanien gezwungen wurden, argumentierten die kreolischen Oberschichten mit der auch „breit propagierten alten vertragsrechtlichen Position, wonach bei Abwesenheit des Monarchen die Souveränität an das Volk (pueblo) zurückfalle“, und gründeten Juntas, die „im Namen von und stellvertretend für Ferdinand VII. die politischen Geschicke in Amerika bestimmen wollten“ (S. 128f.), womit nicht Separation, sondern im Gegenteil die Wahrung der rechtmäßigen spanischen Monarchie das deklarierte Ziel war. Die „schroffe Restaurationspolitik“ (S. 198) des 1814 an die Macht zurückgekehrten Königs Ferdinand VII., der bis 1815 das absolutistische System in Südamerika mit Ausnahme des La-Plata-Raumes militärisch durchsetzte, zerstörte jedoch alle Hoffnungen, die mittlerweile errungenen Fortschritte wahren und im Rahmen der bestehenden Ordnung mit der spanischen Kolonialmacht zu einem akzeptablen modus vivendi kommen zu können, und führte zwischen 1816 und 1830 zum Sieg der Unabhängigkeit in Hispanoamerika, materialisiert in Form 16 unabhängiger Staatsgebilde; allein Kuba und Puerto Rico verblieben auf Grund spezifischer Interessenlagen noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts im spanischen Besitz. Mit der Ausrufung und Krönung Pedros zum Kaiser von Brasilien 1822 erfolgte auch dort unter ganz anderen Vorzeichen die Trennung vom Mutterland Portugal, dessen von Napoleon ins Exil gezwungenen Hof man bereits von 1808 bis 1821 in Rio de Janeiro beherbergt hatte.

 

Neben den politischen und ökonomischen Verflechtungen finden in Stefan Rinkes Darstellung auch die großen Namen der iberoamerikanischen Emanzipation ihre kritische Würdigung: Francisco de Miranda, Toussaint L’Ouverture, Miguel Hidalgo, Simón Bolívar und Dom Pedro I., denen „ein Element des Scheiterns gemein“ sei und an deren Biographien „sich die Ambivalenz der Unabhängigkeitsbewegungen Lateinamerikas ebenso ablesen (lässt) wie die enorme Heterogenität dieser Prozesse“ (S. 289). In Summe brachten die politischen Revolutionen „zwar das Ende des Kolonialstatus, doch die Unabhängigkeit begann mit neuen Abhängigkeiten“ in Gestalt nach langen Kriegen geschwächter Staaten, welche die republikanische Ordnung nicht wirklich zu etablieren vermochten, in denen sowohl das Volk als Souverän ein nebuloser Begriff blieb, als auch die mit der sozialen verzahnte ethnische Problematik sowie der fehlende politische Wille der Eliten die Durchsetzung eines Nationalstaats im Sinne einer dauerhaften Wertegemeinschaft verhinderten (S. 314).

 

19 treffend gewählte, gut kommentierte zeitgenössische Illustrationen und sieben übersichtliche Karten runden zusammen mit dem Endnoten-Anmerkungsapparat, dem ausführlichen Literaturverzeichnis und dem Personen- und Ortsregister, den vorzüglichen, spannend geschriebenen und flüssig zu lesenden Band ab, der wichtige Einsichten in die Entstehung und Entwicklung - und damit auch in die gegenwärtigen Schwierigkeiten - der Nachfolgestaaten der ehemaligen europäischen Kolonien auf lateinamerikanischem Boden zu vermitteln vermag.

 

Kapfenberg                                                     Werner Augustinovic