Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften aus Graz. Zwischen empirischer Analyse und normativer Handlungsanweisung - wissenschaftsgeschichtliche Befunde aus drei Jahrhunderten, hg. v. Acham, Karl (= Kunst und Wissenschaft aus Graz Band 3). Böhlau, Wien 2011. 691 S., Abb. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

In rascher Folge legte der seit Dezember 1974 als ordentlicher Professor und Leiter der Abteilung für soziologische Theorie, Ideengeschichte und Wissenschaftslehre und von 2005 bis zu seiner Emeritierung im September 2008 als Sprecher des Forschungsbereichs „Geschichte und Theorie der Soziologie“ am Institut für Soziologie der Universität Graz tätige Soziologe, Philosoph und Wissenschaftshistoriker Karl Acham das in Gewicht und Gestaltung beeindruckende Sammelwerk Kunst und Wissenschaft aus Graz als Herausgeber vor. Der 2007 erschienene erste Band betrifft Naturwissenschaften, Medizin und Technik aus Graz, der 2009 folgende zweite Band Kunst und Geisteswissenschaften. Mit Band 3 über Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften aus Graz kommt die durch Burg und Universität (Hauptgebäude und ReSoWi-Gebäude) bereits auf dem Umschlag symbolisierte große Leistung zum Abschluss.

 

Angeregt wurde das gesamte Werk durch das Wissenschaftsprojekt „Graz 2003 - Kulturhauptstadt Europas“. In seinem Rahmen wurden zahlreiche Vorträge über die in Graz seit dem 15. Jahrhundert erbrachten Leistungen in Kunst und Wissenschaft erstattet, die durch wichtige Diskussionsbeiträge bereichert wurden. Sie alle wurden nachträglich durch weitere Studien ergänzt und fanden grundsätzlich Aufnahme in die gesamte Dokumentation, die Leistungen von Menschen zur Sprache kommen lassen wollte, die irgendwie durch Geburt oder zeitweisen Aufenthalt mit der Stadt verbunden sind, ohne dass wirkliche Vollständigkeit erreicht werden konnte.

 

Gegliedert ist das Werk in insgesamt fünf Teile. Von ihnen sind drei allgemeinerer Art und dem Kern vorangestellt und nachgeordnet. Im Mittelpunkt stehen die Rechtswissenschaften einerseits und die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften andererseits.

 

Den Eingang bildet nach einer ausführlichen Einleitung ein Blick zurück auf das kulturelle Erbe und die Wissenschaftsdynamik, in dem nach einer Vorbemerkung zu den Zeitumständen einer großen individuellen Leistung der Herausgeber Erzherzog Johann als Neuerer und Bewahrer im Spannungsfeld von Wirtschaft und Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst in der Steiermark im 19. Jahrhundert vorstellt. Dem folgen interdisziplinäre Verschränkung und ideologiekritische Distanzierung an Hand dreier exemplarischer Fälle, denen eine Vorbemerkung über konstruktive und destruktive Interferenzen in der Wissenschaft vorausgeht. Im Einzelnen blickt dann Heinz Fassmann auf die universitäre Geographie in Graz zurück, befasst sich Hildegard Kremers mit dem Diplomaten, Historiker, Kulturanthropologen und Poeten Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall (1774-1856) und schildert Heinrich Kleiner Sozialwissenschaft und Philosophie jenseits von Fideismus und Ideologie an Hand Ernst Topitschs und seines schwierigen Weges zur ideologiekritischen Weltanschauungsanalyse.

 

Die Rechtswissenschaften werden nach einem summarischen Überblick in drei Fächergruppen kanonisches Recht und Rechtsgeschichte, Privatrecht, Bürgerliches Recht oder Zivilrecht, Strafrecht und Kriminologie, Staatsrecht und Politik sowie Rechtsphilosophie gegliedert. Hervorragende Sachkenner schildern dann Leben und Leistungen insgesamt neuner bedeutender Grazer Juristen. Sie seien, ohne dass auf die vielen wichtigen und auch neuen Einzelheiten an dieser Stelle sachlich eingegangen werden kann, wenigstens namentlich erwähnt: Rudolf Ritter von Scherer (Maximilian Liebmann), Arnold Luschin von Ebengreuth (Gunter Wesener), Paul Koschaker (Gunter Wesener), Franz Anton von Zeiller (Bernd Schilcher), Walter Wilburg (Franz Bydlinski), Hans Gross und Julius Vargha (Michael Bock), Hermann Heller (Florian Oberhuber) und Ota Weinberger (Peter Koller).

 

Die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften  werden nach einem summarischen Überblick in die beiden Unterbereiche aufgeteilt. Für die Soziologie und Sozialpsychologie berichtet nach einem Überblick des Herausgebers über Wien und Graz als Stätten einer frühen soziologischen Forschungs- und Vereinstätigkeit Gerald Mozetič über den Grazer Pionier Ludwig Gumplowicz, Manfred Prisching über Joseph A. Schumpeter und Peter Gasser-Steiner über Fritz Heider. Für die Volks- und Betriebswirtschaftslehre behandelt Heinz D. Kurz Schumpeter zwischen Walras und Marx, Richard Sturn Wilhem Röpke, Peter Swoboda Karl Lechner und Adolf Stepan den nach Fertigstellung seines Beitrags 2006 verstorbenen Peter Swoboda.

 

Der gehaltvolle, reich bebilderte Band wird abgeschlossen durch den fünften Teil über Komplementarität und Pluralität in Wissenschaft und Praxis. Nach einer Vorbemerkung jenseits von Dogmatismus und Beliebigkeit untersucht der Herausgeber das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Soziologie, während Ernst Topitsch postum Gedanken über Pluralismus und Toleranz mitteilt. Schlussbemerkungen, eine Auswahlbiographie, ein Autorenverzeichnis und eine Themenübersicht über die Bände 1 und 2 beschließen das gelungene, alle vorhandenen Schwierigkeiten überzeugend meisternde Sammelwerk, mit dessen Hilfe Graz sicher noch lange vom Himmel europäischer Kultur auf die gesamte Welt ausstrahlen wird.

 

Innsbruck                                                                                           Gerhard Köbler