Radkau, Joachim, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. Beck, München 2011. 782 S., 21 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
„Die Umweltbewegungen und Umweltpolitiken sind ein uferloses Thema, vollends unendlich dadurch, dass wir das Ende der Geschichte nicht kennen“ (S. 13). Den „Buchbindersynthesen der Sammelbände“ begegnet Joachim Radkau nun mit dem ehrgeizigen Versuch einer monographischen „Spurensuche im Öko-Dschungel“ (so der Titel seines ersten Kapitels), einem ambitionierten, in vielerlei Hinsicht problembehafteten Projekt.
Denn trotz der durch die nicht abreißen wollende, vom ölverseuchten Golf von Mexiko bis ins verstrahlte japanische Fukushima reichende Kette aktueller ökologischer Katastrophen bedingten medialen Präsenz der Materie und der verstärkten öffentlichen Wahrnehmung kritischer Stimmen führt die Sparte der Umweltgeschichte innerhalb der Öko-Bewegungen wie auch der historischen Wissenschaften bislang noch ein recht bescheidenes Dasein. Dem Verfasser des vorliegenden Bandes ist an diesem Manko mitnichten Schuld anzulasten, im Gegenteil: Bei Fritz Fischer in Hamburg promoviert, ging er unter anderem mit der Rolle der Deutschen Bank in der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs kritisch ins Gericht und wurde mit einer Arbeit über Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft habilitiert. Seit 1981 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld, befasst sich Joachim Radkau primär mit Problemen der Technik- und Umweltgeschichte, ein Unterfangen, das seinen bislang bedeutendsten Niederschlag in seiner im Jahr 2000 publizierten Weltgeschichte der Umwelt „Natur und Macht“ finden und ihm nolens volens den Ruf des Doyens dieser Forschungsrichtung einbringen sollte.
Das neue Buch bestätigt die Berechtigung dieser Einschätzung. Denn die zersplitterte, vielfach in kleinen Einheiten definierte Struktur des Untersuchungsgegenstandes macht es praktisch unmöglich, einer linearen Narration zu folgen; stattdessen wird der Verfasser gezwungen, in einem „Ensemble von Spannungsszenarien“ (S. 32) ständig jene Konstanten und Leitmotive herauszuarbeiten, die die bunten, vielfältig zersplitterten Bewegungen verklammern: „Die Grenzen des Wachstums, die Energie- und Emissionsprobleme, die Angst vor neuartigen Gesundheitsrisiken, die Sehnsucht nach lebensvoller Natur, die ganz elementaren Bedürfnisse nach sauberem Wasser, sauberer Luft und ruhigem Schlaf“. Demnach seien auch Geschichten, in denen etwa das Grundfaktum, dass „die heutige Menschheit in einem Jahr fossile Ressourcen von einer Jahrmillion verbraucht“, ohne Bedeutung ist, „ganz und gar unglaubwürdig“ (S. 37).
So vielschichtig und reich an unterschiedlichsten Nuancen sich die Geschichte der grünen Bewegungen in aller Welt darstellt, so breit die Handlungsfelder - soziale, ökonomische, technische, ethische und nicht zuletzt juridische - angelegt sind, so kaleidoskopisch eröffnet der Verfasser in einem saloppen, aber nie trivialen Ton dem staunenden Leser tiefe Einblicke in die Entwicklung des environmentalism. Drei „Zeitfenster“ stecken den chronologischen Rahmen der Studie ab und listen die für die Entstehung und Entwicklung von Umweltbewegungen maßgeblichen historischen Marksteine, darunter wesentliche legistische Initiativen, auf.
Das erste Fenster erfasst die „Umweltbewegungen vor der Umweltbewegung“, die „lange Jahrhundertwende von Naturschutz und Lebensreform“, worunter der Zeitraum zwischen 1875 bis 1914 verstanden wird. Man erfährt neben vielem anderen, dass der preußische Staat bereits 1877 die Einleitung ungeklärter Abwässer in die Flüsse verboten hat, dass das hessische Denkmalschutzgesetz von 1902 auch bereits den Schutz von Naturdenkmälern vorsah, dass Schweden 1909 als erstes Land überhaupt ein Naturschutzgesetz verabschiedete, aber auch, dass der spätere Nobelpreisträger der Physik, Svante August Arrhenius, schon 1895 die Hypothese über den durch Kohlendioxid in der Atmosphäre verursachten Treibhauseffekt formuliert hat.
Nach einem Blick auf die „Umweltsorgen der Krisenzeit: New Deal und NS-Deutschland“, die „vergessene Naturkonjunktur der Nachkriegszeit“, Naturschutzaktivitäten der International Union for the Preservation/Conservation of Nature (IUPN/IUCN) und des World Wildlife Fund (WWF) und auf die „ Ära der Atomeuphorie“ öffnet sich das zentrale zweite Zeitfenster und umreißt die „ökologische Revolution“ um 1970; es verzeichnet auf zehn Druckseiten relevante Daten zwischen 1965 und 1972. An rechtlichen Maßnahmen zu erwähnen sind hier vor allem die Wasser-Charta und die Europäische Charta zur Reinhaltung der Luft des Europarats 1968 mit der Festschreibung des Verursacherprinzips; ab November 1969 die Einführung des Sammelbegriffs „Umwelt“ für einschlägige, beim Bundesministerium des Innern zu bündelnde Kompetenzen, der unter anderem ein Benzinbleigesetz, ein Abfallgesetz, ein Bundesimmissionsschutzgesetz, ein Fluglärm- und ein Umweltstatistikgesetz folgen sollten, womit die Bundesrepublik Deutschland (BRD) eine legislatorische Vorreiterrolle innerhalb Europas einnahm; das Landeskulturgesetz der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) vom Mai 1970, betreffend Landschafts-, Natur- und Umweltschutz, Recycling und Meliorationen, und 1972 die Gründung des dortigen , Ministeriums für Umweltschutz und Wasserwirtschaft (14 Jahre vor der Bundesrepublik – über dessen Aktivität seien allerdings nur „spärliche Informationen“ bekannt; hingegen wisse man, dass unter Missachtung einer 1913 mit den Anliegern ausgehandelten Vereinbarung nach 1968 die Salz-Abwässer der Kaliindustrie in vollem Umfang in die Werra eingeleitet wurden); schließlich, ebenfalls 1972, das sogenannte Würgassen-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das den Vorrang der Sicherheit vor der Förderung der Kernenergie bei der Auslegung des Atomgesetzes postuliert. Die Masse der für diesen Zeitraum verzeichneten Rechtsakte ist allerdings in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) ergangen, ein klares Indiz für die Schlüsselrolle dieses Landes auf dem Weg zu einem allgemeinen ökologischen Denken. Überhaupt sei die „ökologische Revolution“ um 1970 „ein ganz überwiegend westliches Ereignis“ gewesen, wenn es auch augenblicklich auf das hoch industrialisierte Japan übersprang (S. 137); die erfolgreiche Raumfahrt - am 19. Juli 1969 betrat Neil Armstrong als erster Mensch den Mond - beförderte mit dem Blick von außen auf den blauen Planeten darüber hinaus das Bewusstsein, „wie leer und leblos der Weltraum ist und dass wir nur diese eine Erde haben“; in einer nach Radkau „kopernikanische(n) Wende rückwärts“ wurde sie nun wieder „zu etwas Einzigartigem im All: zu etwas Schönem und zugleich Verletzlichem“ (S. 139). Die Konstituierung des Club of Rome, der erste Earth Day und die Gründung von Greenpeace sind nur einige wenige prominente Highlights in diesem nicht nur für die Umweltbewegung so ereignisreichen Zeitabschnitt.
Mit der Frage „Von der sozialen zur Generationengerechtigkeit?“ markiert der Verfasser sein drittes Zeitfenster, die „Umweltkonjunktur von Tschernobyl bis Rio, 1986-1992“. 1987 erlangte die Europäische Gemeinschaft (EG) im Rahmen der Einheitlichen Europäischen Akte die Kompetenz für Umweltpolitik und das Recht, entsprechende Beschlüsse mit Mehrheit zu fällen; 1989 wird in Erfüllung einer entsprechenden Richtlinie der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland eine Umweltverträglichkeitsprüfung bei raumordnungsrelevanten Projekten vorgeschrieben (aber mit der „Beschleunigungsgesetzgebung“ 1996 wieder aufgehoben); 1990 beschließt der Europäische Rat die Errichtung der Europäischen Umweltagentur zur Erarbeitung eines europaweiten Umweltinformationssystems. Als Aktivisten der Sea Shepherd 1986 große Teile der Walfangflotte versenken, unterlässt es die isländische Staatsanwaltschaft Strafanklage gegen die Täter zu erheben. In vielen Teilen der Welt kommt es – meist in der Folge ökologischer Katastrophen – zu umweltrechtlichen Normierungen, beispielsweise in Indien nach der Chemiekatastrophe von Bhopal 1984, aber noch viel häufiger zur Etablierung begrenzter lokaler Umweltinitiativen.
Diesen sich spontan und in großer Zahl herausbildenden Basisgruppen gehört offenkundig die Sympathie des Verfassers, der selbst vor vierzig Jahren, motiviert durch den „Hass auf den Lärm und den unaufhaltsam vordringenden Autoverkehr“, die „Umweltinitiativen als ‚meine‘ Bewegung empfand“ (S. 633). Wenig vertraut er hingegen der globalen Diplomatie: „Für wen nur sinnenhafte Realitäten und konkrete Effekte zählen – und das gilt gerade für viele Umweltaktivisten, die nicht nur große Reden halten, sondern etwas Sichtbares bewirken wollen -, für den behält die internationale Ebene etwas Imaginäres und Körperloses, und er wird den Verdacht nicht los, dass es sich bei dem internationalen Lobbyismus um eine Spielart des Tourismus handelt“ (S. 138). Bei aller berechtigten Skepsis gegenüber den Motiven der den unterschiedlichsten Einflüssen unterliegenden politischen Global Players schießt Radkau hier doch über das Ziel hinaus. Gerade das Grundproblem der Nutzung der Kernenergie, die nicht vollständig beherrschbare Technologie und die nicht begrenzbaren Auswirkungen von atomaren Katastrophen, zeigt die Notwendigkeit auf, die Genehmigung zum Betrieb solch hochsensibler Anlagen generell der Kompetenz der Nationalstaaten zu entziehen und einer noch zu schaffenden, nach sachlichen Gesichtspunkten unabhängig agierenden, supranationalen Kontrollinstanz zuzuordnen. Selbst gut vernetzte und breit unterstützte lokale Protestbewegungen hätten aber niemals die Möglichkeiten, einen solchen Paradigmenwechsel zu realisieren.
Breit ist die Palette der Persönlichkeiten, die unter der kritischen Feder des Verfassers Kontur gewinnen: Julian Huxley (1887-1975), erster Generalsekretär der UNESCO, wirkte zwar „in vielem wie ein Gründervater der späteren Umweltbewegung“, war aber „zugleich ein entschiedener Fürsprecher der Kernenergie […], und zwar […] keineswegs nur zum Betrieb von Kraftwerken“ (S. 109); Rachel Carson (1907-1964), die Autorin des Öko-Bestsellers „Silent Spring“, deren Naturliebe so vielseitig war, dass sie „vielen anderen Naturfreunden voraus und zur Integrationsgestalt geschaffen (war), die zugleich eine tragfähige Brücke zur Ökologie schlug“ (S. 121); die „Führer in verschiedene Richtungen“, David Brower (1912-2000), Begründer der Friends of the Earth, und Barry Commoner (geb. 1917), der „den direkten Übergang von dem Protest gegen die atomare Rüstung zur Kritik an der zivilen Kerntechnik“ verkörpert (S. 143f.); der „bis zum Autismus selbstverliebte“ Rudolf Bahro (1935-1997), dem zum Propheten die „Zuverlässigkeit gegenüber den Jüngern“ fehlte (S. 268 f.); Märtyrer, darunter Chico Mendes (1944-1988), brasilianischer Kämpfer für den Regenwald, Ken Saro-Wiwa (1941-1995), nigerianischer Bürgerrechtler und Umweltaktivist, und die Atomkritikerin und Gewerkschaftlerin Karen Silkwood (1946-1974). Die feminine Prägung der Umweltbewegung erscheint dem Verfasser so essentiell, dass er zwölf Frauen als „Heroinen“ und „Inkarnationen weltweiter Spannungsfelder der Umweltbewegung“ in einem eigenen Kapitel näher porträtiert: Petra Kelly (1947-1992), Dominique Voynet (geb. 1958), Marjory Douglas (1890-1998), Celia Hunter (1919-2001), Jane Jacobs (1916-2006), Dian Fossey (1932-1985), Wangari Maathai (geb. 1940), Vandana Shiva (geb. 1952), Medha Patkar (geb. 1954), Dai Qing (geb. 1941), Ishimure Michiko (geb. 1927) und Elisabeth Mann Borgese (1918-2002).
Den Nutzen der historischen Rückschau sieht Joachim Radkau pragmatisch darin, „hinter dem bis ins unendliche anschwellenden Wust der Umweltschutzbestimmungen doch die einfachen Grundmotive wiederzuerkennen“, neigten doch Verwaltungsjuristen, „in Deutschland noch mehr als in manchem anderen Land“, zu einer „Überregulierung, bei der der Aufwand in keinem Verhältnis mehr zum Effekt steht“. Der „globale oder nachhaltige Erfolg des Umweltschutzes“ hänge aber entscheidend daran, „ob es gelingt, ihn an einer begrenzten Zahl von klaren und einfachen, allen vernünftigen Menschen einsichtigen Regeln festzumachen“ (S. 618). Mit seinem Appell für eine sinnvolle Reduktion normativer Komplexität trifft der mit einem fast 150 Seiten starken Anhang versehene Band, dessen großer Material- und Ideenreichtum hier nur in Ansätzen angedeutet werden kann, ein allgemeines Bedürfnis, das sich keineswegs nur auf Umweltbelange beschränkt.
Kapfenberg Werner Augustinovic