VogtherrPokornyaugiensia20101230 Nr. 13461 ZRG GA 129 (2012) 33

 

 

Pokorny, Rudolf, Augiensia. Ein neuaufgefundenes Konvolut von Urkundenabschriften aus dem Handarchiv der Reichenauer Fälscher des 12. Jahrhunderts (= MGH Studien und Texte 48). Hahnsche Buchhandlung. Hannover 2010. XII, 178 S. Besprochen von Thomas Vogtherr.

 

Neufunde von Texten früh- und hochmittelalterlicher Herrscherurkunden haben Seltenheitswert. Wenn man aber nicht nur einen solchen Text, sondern gleich mehr als ein halbes Dutzend von ihnen findet, ist das sensationell, auch dann, wenn es sich nicht um Originale, sondern „nur“ um Abschriften des ausgehenden 15. Jahrhunderts handelt. Von einem solchen Fall handelt das vorliegende Buch. – Für wichtige Teile der Rekonstruktion der heute teils verschollenen, teils zerstreuten Urkundenüberlieferung des Klosters Reichenau im Bodensee waren Historiker bisher auf frühneuzeitliche Übersetzungen der Texte in der Chronik des Gallus Öhem aus dem Jahre 1508 angewiesen. Bei Erschließungsarbeiten an der Bibliothek des Augsburgers Konrad Peutinger (1465-1547) fand sich nun – von den Bearbeitern des 2005 erschienenen Bibliothekskatalogs in der Tragweite übrigens nicht erkannt – in der Handschrift Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek 2o Cod. Aug. 395 f. 144r-180r ein Konvolut von insgesamt 33 Abschriften lateinischer Urkundentexte, möglicherweise aus Peutingers Materialsammlungen zu einem nie geschriebenen „Keiserbuch“ stammend. Es handelt sich um 16 Hausmeier-, Königs- und Kaiserurkunden, 9 Papsturkunden und Papstbriefe, 5 Abtsurkunden und 3 andere Stücke aus den Jahren zwischen (angeblich) 724 und 1237/1252. Davon sind 7 Stücke bisher gänzlich unbekannt gewesen, und 12 weitere Urkunden lagen nur in den erwähnten Übersetzungen Öhems vor. Die Stücke werden von Pokorny großenteils ediert und durchweg akribisch kommentiert. Auf eine außerordentlich nützlichen Liste zur früh- und hochmittelalterlichen Urkundenüberlieferung der Reichenau am Ende der Arbeit (S. 149-173) sei ausdrücklich hingewiesen. Eine knappe Einleitung fasst den schwierigen Forschungsstand zu den Reichenauer Urkunden des Früh- und Hochmittelalters einschließlich ihrer zahlreichen (Ver-)Fälschungen übersichtlich zusammen und führt ihn vor dem Hintergrund der neuen Textfunde gleichzeitig über die bisherigen Ergebnisse Karl Brandis (1890) und Johann Lechners (1900) hinaus (S. 1-12). – Bei den bisher unbekannten Urkunden handelt es sich um eine weitere, dritte Version einer angeblichen Gründungsurkunde Karl Martells für die Reichenau von 724 (Edition und Kommentar als Nr. 1, S. 15-22), eine Urkunde König Ludwigs des Kindes von 902 (Nr. 11, S. 53-61), ein Mandat Kaiser Friedrichs I. von 1162 (Nr. 16, S. 75f.), zwei Papsturkunden Leos IX. von 1049/1051 bzw. 1051/1054 (Nrn. 20-21, S. 109-111) und eine weitere Urbans II. (Nr. 22, S. 112-114) sowie eine Urkunde des Reichenauer Abtes Udalrich II. von 1094/1095 (Nr. 32, S. 139-145). – Das Konvolut könnte nach der plausiblen Vermutung Pokornys das Handarchiv des Reichenauer Fälschers Udalrich aus der Mitte des 12. Jahrhunderts gewesen sein (S. 12). Forschungsgeschichtlich ist die Veröffentlichung dieser neuen Texte auch deshalb von erheblichem Interesse, weil sie es erlaubt, die von den früheren MGH-Editoren teils versuchten Rückübersetzungen der deutschen Texte des frühen 16. Jahrhunderts ins Lateinische zu kontrollieren und deren Wortlaut in nahezu allen entscheidenden Fällen zu bestätigen. – Insgesamt gesehen, liegt einmal mehr ein Beweis für die These der Urkundenforscher vor, dass die sorgsame Analyse von Diplomtexten allemal Folgerungen für die Rechts- und Verfassungsgeschichte abzuleiten erlaubt. Man wird, das sei zugestanden, die Geschichte der Reichenau angesichts der neuen Texte nicht umschreiben müssen, aber man bewegt sich nun, insbesondere was die Fälschungsaktionen des 12. Jahrhunderts angeht, auf erheblich sichererem Terrain.

 

Osnabrück                                                                                         Thomas Vogtherr