Paravicini, Werner, Die Wahrheit der Historiker. Oldenbourg, München 2010. VII, 94 S. Besprochen von Thomas Vogtherr.

 

Leopold von Rankes Gewissheit, geduldige Quellenanalyse und Quellenkritik könnten den Historiker befähigen, zu ermitteln, „wie es eigentlich gewesen“ sei, steht längst unter Generalverdacht. Zumeist lautet der Vorwurf auf Naivität und Gutgläubigkeit, nicht gerade strafwürdige Verbrechen, aber immerhin doch geeignet und auch dazu gedacht, den Ruf eines der bedeutendsten Historiker aller Zeiten und deutscher Sprache zu mindern und ihn und die auf seinen Spuren wandelnden Historiker späterer Zeiten („Neo-Rankeaner“) aus dem Kreis der methodisch und methodologisch ernstzunehmenden Wissenschaftler zu verstoßen. Kaum eines der geschichtstheoretischen Gedankengebäude der letzten beiden Generationen ließ Ranke unangetastet. A fortiori gilt das für diejenigen Theorien anderer wissenschaftlicher Disziplinen, derer sich die Historiker mehr und mehr bedienen, vor allem der Literaturwissenschaft, in deren Augen historische Quellen zu (literarischen) Texten werden, bei denen lediglich noch der Umfang des Fiktionalen zu bestimmen ist, nicht aber die Frage klärungsbedürftig erscheint, ob nicht wenigstens ihre Verfasser anderes als Fiktionales im Sinn gehabt haben könnten. An diesem Punkt setzt der vorliegende Essay ein, dessen Verfasser, der langjährige Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Paris, nun seinerseits nicht eben zurückhaltend mit den Gegnern Rankes ins Gericht geht. Entstanden ist eine Streitschrift, die den Vertretern des geschichtstheoretischen common sense den Spiegel vorhalten und ihre naiven und gutgläubigen Gefolgsleute vor den Folgen warnen will.

 

Paravicini geht keinem der erkenntnistheoretischen Kernprobleme aus dem Wege: „Es geht mir darum, die Grenze zwischen Tatsache und (Re-)Konstruktion, Richtigkeit und Wahrheit, Fakten und Fiktionen neu zu ziehen und den Grenzverlauf in vernünftiger Weise zu revidieren“ (13). Gewissermaßen im Vorübergehen nimmt er dabei modische Denkfiguren und Wortverwendungen aufs Korn, polemisiert zu Recht gegen „Vernetzung“ und „Deutungshoheit“, gibt eine (möglicherweise unvollständige) Liste der kulturwissenschaftlichen Turns vergangener Jahre (4f.) und liefert einen brillanten Überblick über die „Arbeitsverteilung im Hause der Geschichte“, in dem Kompilatoren, Editoren, Analytiker, Synthetiker und viele andere mehr mit gleichem Daseinsrecht nebeneinander hausen, nur dass die Werke der Editoren, anders als die der Synthetiker, im Allgemeinen eine wesentlich längere Halbwertszeit haben (31). „Daß die Fakten bleiben, wenn die Interpretationen längst vergessen sind, liegt in der Natur der Sache“ (36).

 

Die Kernaussage des Essays ist ebenso schlicht wie im heutigen Diskurs (sic!) revolutionär: Vom Historiker sei das handwerklich perfekte Bemühen darum zu verlangen, die Richtigkeit von Einzeltatsachen aus den Quellen festzustellen und sich auf dem Wege der notwendigerweise auswählenden Synthese der Wahrheit eines Gesamtzusammenhangs anzunähern (25, 36 u. ö.): „Wahrheit gibt es auf vielen Stufen. Die Wahrheit ist unerreichbar“ (38). Dabei ist es für Paravicini unvorstellbar, auf „Wahrheit“ als Ziel der Erkenntnis gänzlich zu verzichten und Begriff und Inhalt zur Disposition zu stellen. Neben dieser Kernaussage findet sich Seite für Seite Bedenkenswertes, so über die uralte Frage, ob man aus der Geschichte lernen könne, oder über die ebenfalls nicht neue, aber immer wieder neu diskutierte Frage nach der Rolle der Phantasie in der Geschichtsschreibung (29-32).

 

Das alles ist ambitioniert und auf eben 41 Textseiten nebst 21 Seiten Anmerkungen und einer ausgesprochen nützlichen, 31seitigen Bibliographie nur in Umrissen abzuhandeln möglich, aber es lohnt das Lesen, das Nach-Denken, fordert zum Widerspruch heraus und macht andererseits partienweise auch die Zustimmung zur evidenten Notwendigkeit, wie es bei geistvollen Streitschriften eben der Fall sein kann. In einem Atemzuge gelesen, ein Vergnügen für einen langen Nachmittag; Seite für Seite studiert und durchgearbeitet, kaum weniger als ein Kompendium geschichtstheoretischer Positionen der vergangenen Generationen. Ein großes, dabei schmales Buch!

 

Osnabrück                                                                                         Thomas Vogtherr