Osterhammel, Jürgen, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 4. Aufl. Beck, München 2009. 1568 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Selten hat ein Werk auf Anhieb eine derart breite Zustimmung erfahren wie Jürgen Osterhammels Geschichte des 19. Jahrhunderts. Fachkollegen wie Kritiker haben dem quantitativ in enzyklopädische Dimensionen vorstoßenden, kaleidoskopisch anmutenden Jahrhundertpanorama des Konstanzer Ordinarius für neuere und neueste Geschichte auch in der Qualität höchsten Anspruch bescheinigt; so spricht Jürgen Kocka von einem „Meilenstein deutscher Geschichtsschreibung“, einem der „wichtigsten historischen Bücher der vergangenen Jahrzehnte“ und von einem „großen Wurf“.
Die Aufgabe, Weltgeschichte als eine globale Strukturgeschichte zu verfassen und zugleich die Epochencharakteristika hervorzuheben, führt ein solches Unterfangen an vielerlei Grenzen, wie die Komplexität der auszuwählenden Parameter, die Unüberschaubarkeit und Grenzenlosigkeit potentiellen Quellenmaterials, die Notwendigkeit der Wahl eines eigenen Standpunktes bei dessen gleichzeitiger Infragestellung. Was sich schon für den griechischen Universalhistoriographen Herodot im fünften Jahrhundert vor Christus als Herausforderung auftat, ist in unserer Zeit exponentiell anwachsenden Wissens trotz moderner technischer Hilfsmittel keineswegs leichter in den Griff zu bekommen.
Jürgen Osterhammel versucht es dennoch und teilt seine Arbeit in drei Großabschnitte, die er mit „Annäherungen“, „Panoramen“ und „Themen“ überschreibt. Die „Annäherungen“ (etwa 160 Seiten) befassen sich mit grundlegenden Kategorien, wie der „mediale(n) Verewigung“, also den jetzt noch greifbaren physischen Manifestationen des 19. Jahrhunderts, mit Raum und Zeit. In den „Panoramen“ (über 700 Seiten) werden folgende Großkomplexe analysiert: Sesshafte und Mobile; Lebensstandards (Risiken und Sicherheiten materieller Existenz); Städte (Europäische Muster und weltweiter Eigensinn); Frontiers (Unterwerfung des Raumes und Angriff auf nomadisches Leben); Imperien und Nationalstaaten (Die Beharrungskraft der Reiche); Mächtesysteme, Kriege, Internationalismen (Zwischen zwei Weltkriegen); Revolutionen (Von Philadelphia über Nanjing nach St. Petersburg); Staat (‚Minimal government‘, Herrscherpomp und ‚Hörigkeit der Zukunft‘). Daran schließen sich die „Themen“ (circa 270 Seiten): Energie und Industrie (Wer entfesselte wann und wo Prometheus?); Arbeit (Die physischen Grundlagen der Kultur); Netze (Reichweite, Dichte, Löcher); Hierarchien (Vertikalen im sozialen Raum); Wissen (Vermehrung, Verdichtung, Verteilung); ‚Zivilisierung’ und Ausgrenzung; Religion.
Aus dieser Aufzählung der inhaltlichen Struktur wird die Eigenart und Eigenständigkeit von Osterhammels Ansatz deutlich, der weder einem chronologischen noch einem territorialen Ordnungsmuster folgt, sondern querschnittartig das Material zu gelungenen Konglomeraten mit thematischer Relevanz gruppiert, die vom Interesse am Wandel und den vielfältigen Möglichkeiten der Transformation durchdrungen sind. In der Verschränkung mit asiatischen, afrikanischen und amerikanischen Perspektiven gelingt so, zeitlich weit über den gesteckten Rahmen des 19. Jahrhunderts hinaus oszillierend, eine Geschichte der europäischen Dominanz, letztendlich doch aus einem europäischen Blickwinkel und dennoch abseits der Tradition monokausaler eurozentrischer Wertungen.
Unter anderem legt der Verfasser überzeugendes Argumentationsmaterial vor, das geeignet ist, eingeschliffene Ordnungsmuster zu revidieren und durch neue, einem globalen Ansatz besser gerecht werdende Koordinaten zu ersetzen. In der Periodisierung zeigt er die Fragwürdigkeit der Validität eines durch die Daten 1789 (Französische Revolution) und 1914 (Ausbruch des Ersten Weltkriegs) abgegrenzten, langen 19. Jahrhunderts auf; eine Sattelzeit von etwa 1770 bis 1830, der zunächst das Viktorianische Zeitalter (1850 bis 1880) und schließlich das Fin de Siècle (1880 bis 1919) folgen, erfasse die welthistorische Perspektive präziser. Nicht - wie bisher oft herausgestrichen – Nationalstaaten, sondern Imperien - allen voran Großbritannien, dessen Erbe im 20. Jahrhundert von den USA angetreten worden sei - seien im 19. Jahrhundert die dominierende territoriale Organisationsform von Macht gewesen.
Neben solchen grundlegenden Neupositionierungen besticht die Arbeit vor allem durch die Präsentation einer ungeheuren Fülle Materials aus aller Herren Länder, dessen Inhalte ihrer Quantität wegen sich an dieser Stelle einer auch nur kursorischen Darstellung entziehen. Wesentlich ist, dass es Jürgen Osterhammel auf diese Weise gelingt, abseits des weithin geführten geschichtstheoretischen Diskurses eine konkrete Globalgeschichtsschreibung beispielgebend zu etablieren, die bereits fruchtbare Nachfolger - etwa in der unter der Herausgeberschaft Reinhard Sieders und Ernst Langthalers entstandenen, facettenreichen Teamstudie mit dem Titel „Globalgeschichte 1800-2010“ (2010) - finden durfte.
Gegen Ende seines Buches (S. 1286ff.) hebt der Verfasser jene fünf Indikatoren heraus, die ihm die Verwandlung der Welt im Zeitraum des von ihm umrissenen, erweiterten 19. Jahrhunderts in Ergänzung der gängigen herkömmlichen Leitbegriffe Industrialisierung, Urbanisierung, Nationalstaatsbildung, Kolonialismus und Globalisierung am besten zu beschreiben vermögen. Man habe es mit einem Zeitalter „asymmetrischer Effizienzsteigerung“ in den Bereichen Industrie und Landwirtschaft, Militär und Verwaltung zu tun. Ein weiteres Merkmal sei eine „gesteigerte Mobilität“, sowohl im Ausmaß, als auch durch Beschleunigung aller Formen von Zirkulation und untermauert durch Infrastrukturen, ein drittes die „asymmetrische Referenzverdichtung“, worunter Osterhammel den in der Theorie reziproken, in der Praxis aber mehr als Einbahnstraße von West nach Ost verlaufenden, zunehmenden Kulturtransfer versteht. Dazu komme noch die „Spannung zwischen Gleichheit und Hierarchie“, wenn dem Gleichheitsprinzip auf der anderen Seite neue Hierarchisierungen gegenüberstanden, und als letztes Charakteristikum die „Emanzipation“, wie sie vor allem in der Abschaffung der Sklaverei als legaler Institution zum Ausdruck kam.
110 Seiten Anmerkungen, kurz gehalten und im Wesentlichen die eingebrachte Literatur zitierend, ergänzen neben dem über 100 Seiten starken Literaturverzeichnis den Text, der gänzlich ohne graphische Aufbereitung auskommen will und durch jeweils ein Personen-, Orts- und Sachregister gut erschlossen werden kann. Letzteres erleichtert auch das Auffinden der eingestreuten mannigfaltigen rechtsgeschichtlichen Bezüge, etwa über Stichwörter wie „Rechtsordnungen“, „Rechtsstaat“, „Verfassung“, „Verfassungsstaat“, „Verträge“ oder „Völkerrecht“.
Die Gesamtbewertung von Jürgen Osterhammels beeindruckendem, die außergewöhnliche Materialfülle unter Verzicht auf eine sogenannte „Meistererzählung“ synthetisch zusammenführendem Opus kann nur eindeutig ausfallen. Ein Rezensent hat einmal von dieser Arbeit als von der „bislang bedeutendste(n) Leistung eines deutschsprachigen Neuzeithistorikers im 21. Jahrhundert“ gesprochen. Er hat damit - bei aller Relativität von Wertungen dieser Art - den Nagel auf den Kopf getroffen.
Kapfenberg Werner Augustinovic