Nies, Kirsten, „Die Geschichte ist weiter als wir“. Zur Entwicklung des politischen und völkerrechtlichen Denkens Josef Kohlers in der wilhelminischen Ära (= Beiträge zur politischen Wissenschaft 155). Duncker & Humblot, Berlin 2009. 459 S. Besprochen von Hans-Peter Benöhr.

 

Wer wissen will, wie es unseren Kollegen im Kaiserreich, im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik ums Herz war, dem sei diese, von Johannes Tuchel betreute politikwissenschaftliche Dissertation empfohlen.

 

Die Dissertation schildert zuerst Kohler (1849-1919) auf dem Höhepunkt seines Ruhms und sein pazifistisches Engagement, beschreibt sodann die Katastrophe des Weltkriegs und Kohlers heftige Pamphlete gegen die Feinde Deutschlands und endet mit Kohlers Unterstützung der Republik noch in seinem letzten Lebensjahr.

 

Kirsten Nies beschreibt einen gewaltigen Wissenschaftsorganisator und Universalgelehrten, einen selbständigen Denker innerhalb der Grenzen der Staats- und Gesellschaftsordnung des Kaiserreichs (Gleichstellung nichtehelicher Kinder, Emanzipation der Frau, Milderung der Abtreibungsstrafe, im Antisemitismusstreit gegen Treitschke, Verteidigung der Homosexuellen, Rede- und Wissenschaftsfreiheit, Pazifismus, Anerkennung der Rechtsordnungen anderer Kulturen, Kritik am deutschen Kolonialkrieg). Sie schließt eine Forschungslücke mit der Darstellung seiner Leistungen auf dem Gebiet des Völkerrechts, fndet aber seine Ideen weder neu noch besonders fundiert. Sein Anliegen war die Sicherung des Frieden durch Recht, Institutionen und eine umfassende Friedenspädagogik. Seine pazifistischen Äußerungen bilden den zweiten Forschungsstrang der Verfasserin.

 

1914 war er von einer Kriegsbegeisterung weit entfernt, wurde von der allgemeinen  Kriegspsychose jedoch sofort erfasst. Seine pazifistischen Ideen sah er jetzt als Irrtum an. Er verteidigte den Verteidigungskrieg, in dem er Deutschland sah, verteidigte auch die Verletzung der Neutralität Belgiens, die deutschen Geiselerschießungen, die Zerstörung Löwens und den U-Boot-Krieg, rechnete mit Annexionen nach dem Sieg und wandte sich gegen Friedensbemühungen. Noch Anfang Oktober 1918 sprach Kohler von einem deutschen Sieg.

 

Die dröhnenden Reden und Aufrufe der Gelehrten im Krieg kontrastieren mit ihrem Schweigen in der Zeit der Republik. Doch Kohler verlieh der Republik die historische Legitimierung, indem er sie mit den Ideen von 1848 verband; er trat der Deutschen Demokratischen Partei bei und äußerte die Absicht, am Neuaufbau der Republik mitzuarbeiten. Es heißt, der Gedanke habe ihn gequält, dass er im Krieg die Voruteilslosigkeit des Gelehrten aufgegeben hatte. Er lehnte die einseitige Kriegsschuld Deutschlands ab und verlangte stattdessen eine allseitige Erörterung.

 

Kirsten Nies findet einen großen Teil des Materials (auf mehr als 70 Seiten nachgewiesen) in wissenschaftlichen Aufsätzen, in Beiträgen zur Tagespresse und in unveröffentlichter Korrespondenz. Angenehmerweise rahmt sie jedes Kapitel durch eine kurze Einleitung und eine konzise Zusammenfassung ein. Erfreulich sind auch die Kurzbiographien zu den wichtigsten genannten Personen. Bei manchen Zitaten aus späteren Sammelwerken wäre ein Hinweis auf das Ersterscheinungsjahr nützlich gewesen. Sachwort- und Personenverzeichnisse, obwohl etwas knapp, erleichtern die Arbeit mit ihrem Buch.

 

Kirsten Nies unternimmt mit Erfolg eine „Werkanalyse mit integrierten Informationen zur Lebensgeschichte“, wobei sie Werk und Person mitten in die ausführlich dokumentierten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen stellt.

 

Berlin                                                                                                 Hans-Peter Benöhr