Napoleon und Europa. Traum und Trauma, kuratiert v. Savoy, Bénédicte unter Mitarbeit v. Potin, Yann. Prestel, München 2010. 384 S., 450 farb. Ill. Besprochen von Werner Schubert.

 

Die Bonner Napoleon-Ausstellung (Dezember 2010-April 2011) hatte zum Ziel, die positiven und negativen Auswirkungen der napoleonischen Machtpolitik im gesamteuropäischen Rahmen in den Bereichen Krieg, Politik, Kunst, Propaganda und Kunstraub zu veranschaulichen. Entsprechend dem Ausstellungstitel „Traum und Trauma“ geht es um die „enge Verbindung zwischen dem von Napoleon geweckten Erwartungshorizont und den tiefen Verletzungen, die er verursachte“, wie die Ausstellungskuratorin Bénédicte Savoy (FU Berlin) verdeutlicht (S. 14). Die Exponate, die im Katalogteil weitgehend abgebildet und fachkundig beschrieben sind, werden im Rahmen von zwölf Themenkomplexen präsentiert: 1. General Bonaparte, 2. Faszination und Abscheu, 3. Leibliche und symbolische Geburt, 4. Der Traum vom Weltreich, 5. Dynastische Herrschaftssicherung, 6. Rechtsraum, Religion. Neue Formen der Beherrschung von Raum und Geist, 7. Kunst- und Archivraub, 8. Das Reich der Zeichen, 9. Duelle gegen England und Frankreich, 10. Nationen – Emotionen, 11. Symbolischer und leiblicher Tod und 12. Projektionen. Eine „geteilte“ Ikone. Zu jeder Sektion gibt Savoy eine pointiert formulierte kurze Einleitung.

 

Dem Katalogteil sind vorangestellt mehrere Essays (S. 29-149). Luigi Mascilli Migliorini weist auf die Verbreiterung der Forschungen über die napoleonische Zeit in den letzten 20 Jahren hin. Einen detaillierteren Nachweis der neueren insbesondere französischen, meist politik- oder sozialgeschichtlich orientierten Werke bringt Natalie Petiteau (Avignon). Hinzuweisen ist insbesondere auf die Magisterarbeit von Laure Estellon: „Les ouvriers de la soie et le conseil de prud’hommes d’Avignon sous l’Empire (1808-1814) [Avignon 1999]. Thierry Lentz (Nancy/Paris; Directeur des Fond Napoléon) arbeitet heraus, dass Napoleon ein Erbe der revolutionären Realpolitik, nicht der Revolutions-Theorien gewesen sei (S. 41ff.). Mit seiner unentschlossenen Europapolitik habe er den Rheinbund als „eine große historische Chance“ verpasst (S. 44). In dem Aufsatz über „Imperiale Verletzungen“ (S. 49ff.) von Antoine de Baecque geht es um die Kriegsverletzungen französischer Soldaten. Gerne hätte man weitere Details über die rechtliche Regelung der Versorgung invalider Soldaten, die nur eine reduzierte Pension erhielten (S. 62), erfahren. Über die Thronfolgeregelung von 1804 teilt Daniel Schönpflug einige Einzelheiten mit (S. 72ff.). Von rechtshistorischem Interesse ist der Beitrag von Jean-Luc Chappey und Marie-Noëlle Bourguet über die „Beherrschung des Raumes“ (S. 77ff.), die sich mit der Organisation der Kommunikationsmittel (Aufbau eines optisch-mechanischen Telegraphensystems und der Routes impériales sowie mit der Vereinheitlichung und der administrativen Rationalisierung befassen. In diesem Zusammenhang wird auf die weite Verbreitung des Code civil (Code Napoléon) hingewiesen (S. 83). Allerdings entschied im Königreich Westphalen der Klerus nicht „weiterhin über den Personenstand“, sondern vielmehr hatte der Klerus (statt des Bürgermeisters) die Personenstandsregister nach den Vorgaben des C.N. zu führen. Im Königreich Neapel konnte man an der anfänglichen Weigerung, die Ehescheidung zuzulassen, auf ausdrückliche Anordnung Napoleons nicht festhalten (ungenau S. 83). Im Katalogteil sind die Titelblätter einiger Ausgaben des C.N., des Code de commerce, des Code pénal und des Code d’instruction criminelle mit kurzen Erläuterungen von Christoph Birnbaum und David Blankenstein wiedergegeben (S. 249f.). Es liegt allerdings in der Natur der Sache, dass sich die rechtlichen und gesellschaftspolitischen Errungenschaften der napoleonischen Kodifikationen nur schwer visualisieren lassen. Mit Recht weist Savoy darauf hin, dass sich im Anschluss an den Historiker Hartmut Kaelble „Napoleons ‚gedachtes und gewolltes’ Europa“ „sich als Geschichte einer seit der Aufklärung gereiften Idee bzw. einer im Nachhinein konstruierten Vision beschreiben“ lasse (S. 241). S. 208 ist ein Teil des Registers der 1808 gesetzlich angeordneten Annahme fester Namen durch die Juden wiedergegeben. Yann Potin befasst sich mit dem schon unter der Revolution begonnenen Kunstraub und dem weniger bekannten, von Napoleon 1810 angeordneten Archivraub (S. 91ff.), der u. a. 35.000 Kartons aus Deutschland umfasste. Weitere Essays befassen sich mit Napoleon und der Politik der Bilder (S. 101ff. Uwe Fleckner), mit Napoleon in der Kunst der Befreiungskriege (S. 117ff., Michael Thimann) und mit „Nation und Emotion“ (S. 137ff.; Etienne François). Johannes Willms spricht in seinem Beitrag vom „verpassten Rendezvous Napoleons mit Europa“ (S. 148). Dieser habe Europa nicht begriffen und er sei deshalb außerstande gewesen, „die Macht Frankreichs mit dem europäischen Staatensystem in Einklang zu bringen“ (S. 149). Das Werk wird abgeschlossen mit Karten über die territoriale Entwicklung Frankreichs und Europas zwischen 1789 und 1815, mit einer detaillierten Zeittafel, einer nützlichen Bibliographie sowie mit einem Personen- und Ortsregister.

 

Der opulent ausgestattete Band verdeutlicht, dass die „von der französischen Zentraladministration mit Unterstützung der Armee zügig durchgeführte Integration Europas“ „zweifellos vielen europäischen Ländern den Zugang zur Moderne (u.a. in administrativer, ökonomischer, juristischer, infrastruktureller Hinsicht)“ ermöglicht hat (Savoy, S. 301). Er enthält eine Reihe von Anregungen für weiterführende rechtshistorische Untersuchungen über die deutsche Rezeptionsgeschichte des französischen Rechts. Beispielsweise fehlt noch immer eine zusammenfassende Darstellung der Praxis des französischen Rechts in den vier linksrheinischen Departementen zwischen 1797 und 1814.

 

Kiel

Werner Schubert