Müller, Rolf-Dieter, Der Feind steht im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939. Ch. Links Verlag, Berlin 2011. 294 S., 9 Kart., 22 Abb. Besprochen von Martin Moll.

 

Der 70. Jahrestag des „Unternehmens Barbarossa“, des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, hat dem Buchmarkt eine Fülle einschlägiger Literatur beschert, deren Spannweite von knapp gefassten Überblicken bis zu voluminösen Gesamtdarstellungen aller Aspekte dieses mörderischen Ringens reicht. Die hier vorzustellende Studie mittleren Umfangs aus der Feder des wissenschaftlichen Direktors am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr, Rolf-Dieter Müller, beschreitet insofern andere Wege, als es ihr nicht um den Kriegsverlauf, sondern um die Entschlussbildung geht, die dem Angriffsbefehl vorausging – eine scheinbar längst geklärte Frage.

 

Müller setzt im 19. Jahrhundert ein und skizziert die Lösungen, welche der deutsche Generalstab für den drohenden Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Russland fand. Lange wirkte die Erfahrung von 1917/1918 nach, als sich zeigte, dass Russland militärisch niederzuringen war, nicht jedoch die Gegner im Westen. Während der 1920er und frühen 1930er Jahre kooperierte die Reichswehr auf vielfältige Weise mit der Roten Armee, bevor Hitler bereits 1933 der Zusammenarbeit mit dem „bolschewistischen Todfeind“ ein jähes Ende setzte. Zur allgemeinen Überraschung schloss der Diktator im Januar 1934 mit dem bis dato befehdeten Polen einen Nichtangriffsvertrag, in dessen Fahrwasser Deutschland versuchte, Polen als Juniorpartner für eine Ostexpansion auf Kosten der UdSSR zu gewinnen. Erst als sich Warschau im Frühjahr 1939 definitiv an Paris und London anlehnte, gab Hitler diese Absicht auf und stellte die Weichen für einen Krieg gegen Polen.

 

Der Autor möchte nachweisen, dass Hitler weder einen seit der Abfassung von „Mein Kampf“ fertigen Stufenplan zur „Gewinnung von Lebensraum im Osten“ besaß noch rein opportunistisch jeweils vorhandene, günstige Gelegenheiten ausnützte. Wenn Müller allerdings schreibt, Hitlers Absicht, Lebensraum zu erobern, habe stets „felsenfest“ festgestanden (S. 128), nähert er sich der intentionalistischen, auf die Programmatik des Diktators fixierten Richtung an. Freilich schien Hitler bereit zu sein, verschlungene Wege zu seinem Ziel unter Einschluss abrupter Kehrtwendungen wie des Hitler-Stalin-Paktes zu beschreiten, was wiederum auf Opportunismus hindeutet, so dass Müller insgesamt eine vermittelnde Position einnimmt.

 

War das bisher Referierte in den Grundzügen bereits bekannt, so gilt dies nicht für die vom Verfasser aus den Quellen rekonstruierten Pläne der deutschen Militärs für einen Krieg gegen die UdSSR, die keineswegs erst nach dem Sieg über Frankreich im Mai/Juni 1940 einsetzten, sondern Jahre zurückreichten. Müller belegt, dass die Reichswehr/Wehrmacht die Kampfkraft der Roten Armee durchgehend und massiv unterschätzte, dass Planspiele für einen – anfangs territorial begrenzten – Ostfeldzug seit Mitte der 1930er Jahre feststellbar sind, dass der Generalstab sogar eine Fortsetzung des Krieges gegen Polen im September 1939 weiter nach Osten vorbereitete, wären nur die Westmächte neutral geblieben, und dass die Heeresführung bereits im Juni 1940 Kriegspläne gegen Russland ausarbeiten ließ, bevor noch Hitler entsprechende Befehle gab.

 

Unbedingt zuzustimmen ist Müllers Feststellung, dass der Generalstabschef des Heeres, Franz Halder, und einige seiner engsten Mitarbeiter, die ab den 1950er Jahren in der Bundeswehr Karriere machten, nach 1945 emsig und erfolgreich bestrebt waren, ihre eigenen Initiativen rund um „Barbarossa“ zu vertuschen und alle Verantwortung auf den angeblich nur in ideologischen Bahnen denkenden Hitler abzuschieben. Bei diesem Anliegen des Buches ist freilich dessen Untertitel „Hitlers geheime Pläne…“ unglücklich gewählt, abgesehen von der zeitlichen Einschränkung auf 1939, die dem Inhalt keineswegs gerecht wird.

 

Weniger eindeutig ist, welcher konkrete Stellenwert den hier ausgebreiteten zahllosen Kriegsspielen und Planstudien über Jahre hinweg zukommt. Müller konzediert, dass das meiste wieder in den Schubladen verschwand, dass manches nur der Schulung von Generalstäblern im Durchdenken theoretischer Szenarien diente und dass die Quellenlage es nur selten erlaubt, eine sichere Verbindung zwischen militärischen Gedankenübungen und politischen Entschlüssen herzustellen. Pointiert formuliert, könnte man anhand vergleichbarer Quellen ebenso stringent beweisen, dass deutsche militärische Planungen für einen Krieg gegen die Schweiz, Dänemark oder Luxemburg existierten. Der Verfasser hätte explizit auf die Neigung von Generalstäben (damals wie heute) hinweisen sollen, alle irgendwie denkbaren Szenarien durch entsprechende Studien abzudecken.

 

Dessen ungeachtet bringt das Buch vor allem für militärgeschichtlich Interessierte eine Fülle neuer Argumente und Einsichten. Die Wehrmachts- bzw. Heeresführung opponierte keineswegs gegen Hitlers Barbarossa-Pläne, sondern arbeitete im Gegenteil dem Diktator willig zu, ja voraus, wovon sie nach 1945 nichts mehr wissen wollte. Die Studie weist ferner darauf hin, dass es keinen geraden, aus Hitlers Weltanschauung schlüssig abzuleitenden Weg zum 22. Juni 1941 gab, sondern dass wenigstens bis zum Frühjahr 1939 auch ganz andere Szenarien möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich gewesen sind. Bei dem Hintergrund des Verfassers verwundert nicht, dass das Militär zeitweise ein Eigenleben zu führen scheint, wenngleich Müller die Prärogative der Politik nie in Zweifel zieht. Außenpolitik und Diplomatie sind zwar stets präsent, aber lediglich anhand der Sekundärliteratur bzw. edierter Quellen ausgebreitet, für Polen auf recht schmaler Basis. Insgesamt greift Müller jedoch ein bedeutsames, noch immer nicht restlos geklärtes Problem auf und bietet mit seiner flüssig geschriebenen, ansprechend illustrierten Studie vielfältige Denkanstöße, aber nicht die abschließende Antwort.

 

Graz                                                                                       Martin Moll