Meier, Sonja, Gesamtschulden. Entstehung und Regress in historischer
und vergleichender Perspektive (= Ius Privatum 151). Mohr (Siebeck), Tübingen
2010. 1350 S. Besprochen von Gunter Wesener.
Gesamtschuldverhältnisse haben in jüngster Zeit in historischer, vergleichender und dogmatischer Hinsicht wieder starkes Interesse gefunden. 2007 erschien die Arbeit Philipp Schmieders (Duo rei. Gesamtobligationen im römischen Recht; dazu G. Wesener, ZRG Germ. Abt. 126, 2009, 437f.), 2009 eine Untersuchung Anja Steiners (Die römischen Solidarobligationen. Eine Neubesichtigung unter aktionenrechtlichen Aspekten) und nunmehr das Opus magnum Sonja Meiers.
Die Verfasserin, eine Schülerin Reinhard Zimmermanns, eine Zeit lang Referentin am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg, hat sich mit vorliegender Arbeit im Sommersemester 2009 an der Juristischen Fakultät der Universität Regensburg habilitiert und erhielt noch im selben Jahr den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und europäische Rechtsgeschichte an der Philipps-Universität Marburg.
Die Arbeit stellt eine grundlegende rechtsdogmatische Untersuchung mit wertvollen rechtshistorischen und rechtsvergleichenden Aspekten dar. Sie gliedert sich in drei Hauptteile: Teil A: Rechtsgeschäftlich vereinbarte Gesamtschulden, Teil B: Gesamtschulden auf Schadenersatz, Teil C: Mitbürgen.
In dieser Besprechung soll nur auf einige historische Gesichtspunkte hingewiesen werden. Im Teil A wird etwa die Frage „Teilschuldvermutung vs. Gesamtschuldvermutung“ geprüft (S. 12 ff.). Im gemeinen Recht war die Teilschuldvermutung (im Zweifel nach Kopfteilen) allgemein anerkannt, wobei man sie auf die justinianische Novelle 99 (= Auth. 97) vom Dezember 539[1] oder auch auf andere Quellenstellen stützte (S. 13)[2]. Im Gegensatz dazu vertrat das preußische Allgemeine Landrecht (I 5 § 424) den Standpunkt einer Gesamtschuldvermutung. Code Civil, Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch und auch noch der Erste Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuchs folgten hingegen der gemeinrechtlichen Auffassung (S. 14).
Sehr instruktiv dargestellt werden die Konstruktionsversuche der deutschen Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts hinsichtlich einer Unterscheidung zwischen Korrealität und Solidarität (S. 53 ff. u. 518 ff.)[3].
Als eine Art Gegenstück zur Korrealobligation wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Germanisten, insbesondere von Otto Stobbe und Otto von Gierke, die sogenannte Gesamthandschuld entwickelt. Ihr Wesen besteht darin, dass die Gesamtleistung nicht von jedem einzelnen Schuldner, sondern nur von allen Schuldnern gemeinschaftlich geschuldet wird. Das Verhältnis dieser Gesamthandschuld zur römisch-gemeinrechtlichen Gesamtschuld ist umstritten. Die Verfasserin (S. 67) hält es aber jedenfalls für zutreffend, dass es zur Schuldnermehrheit auch einheimische Rechtsvorstellungen gab, die sich in der Praxis mit römischem Gedankengut gemischt haben. Eine Nachwirkung dieser Gesamthandschuld sieht sie nicht nur im Schuldmodell der Gesamthandgemeinschaften (dazu S. 75ff.), sondern auch bei der heute herrschenden Lehre zum BGB von der „gemeinschaftlichen Schuld“, als Alternative zu Gesamt- und Teilschulden (dazu S. 134ff., 139ff.), bei der mehrere Schuldner, die kein Gesamthandvermögen haben, die Leistung im Zusammenwirken erbringen müssen.
Höchst eingehend erörtert wird der Rückgriff unter vertraglichen Gesamtschuldnern (S. 259ff.). Spätestens zur Zeit Justinians war zumindest bei vertraglichen Gesamtschulden neben einem Regress aus dem Innenverhältnis wahrscheinlich ein Zessionsregress möglich, sofern der Leistende vom Gläubiger die Abtretung verlangte; vielleicht gab es sogar eine allgemeine Regressklage (S. 267f.)[4]. Unter den gemeinrechtlichen Autoren war die Frage, ob dem leistenden Korrealschuldner „als solchem“ ein Regressrecht gegen seine Mitschuldner zustehe, von der Zeit der Glossatoren bis ins 19. Jahrhundert umstritten (S. 268)[5]. Bei Gesamtschuldverhältnissen aus Delikten wurde ein Schuldausgleich grundsätzlich nicht für möglich angesehen (S. 571).
Im Teil B wird zunächst auf „die solidarische Schadenersatzhaftung im Verhältnis zur Vertragsgesamtschuld“ eingegangen (S. 496ff.). Auch hier wird die Entwicklung im römischen Recht, im älteren gemeinen Recht sowie in der Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts eingehend erörtert. Die herrschende Lehre des 19. Jahrhunderts ging davon aus, dass die Zweiteilung der Gesamtschulden in Korrealobligationen und Solidarobligationen sinnvoll sei und Geltung habe (S. 531f.).
Ein umfangreiches Kapitel ist den historischen Grundlagen des Tatbestands der Schadenersatz-Gesamtschuld gewidmet (S. 695ff.). Die verschiedenen Fallgruppen (Mittäter und Teilnehmer, Beteiligte, Nebentäter, Haftung für einen anderen) werden aufgezeigt. In einem weiteren Kapitel (S. 830ff.) werden diese Fragen nach heutigem Recht behandelt, wobei auch die Lehre nach 1945, etwa die von Karl Larenz und Walter Selb[6] begründete Gleichstufigkeitslehre, entsprechende Berücksichtigung (S. 846ff.) findet.
Auch im Teil C (Mitbürgen) werden zunächst die römischrechtlichen Grundlagen und die gemeinrechtliche Lehre von der Mitbürgschaft behandelt (S. 1027ff. u. S. 1033ff.). Die Frage der Haftung von Mitbürgen war höchst umstritten. Für gemeinschaftliche Mitbürgen galt im gemeinen Recht nach Ansicht vieler Autoren die allgemeine Teilschuldvermutung. Nach der überwiegenden Auffassung hafteten hingegen gemeinschaftliche Mitbürgen in solidum. Die Novelle 99 (=Auth. 97) habe sich nur auf Verpflichtungen mehrerer als Hauptschuldner bezogen (S. 1034f.).
Auch die Frage des Regresses und der Regressvereitelung unter Mitbürgen wird zunächst nach römischem und gemeinem Recht erörtert (S. 1089ff.). Hierauf folgt die Prüfung der Rechtslage nach dem preußischen ALR, dem österreichischen ABGB und dem französischen Code Civil (S. 1105ff.). Schließlich wird der Mitbürgenregress im BGB (§ 776) eingehend untersucht (S. 1136ff.). Ein Abschnitt ist den Grundlagen des Mitbürgenregresses gewidmet (S. 1224ff.). Ein weiterer Abschnitt behandelt das Verhältnis von Bürgschaft und Gesamtschuld (S. 1232ff.). Manche Autoren bejahen zumindest die strukturelle Gemeinsamkeit beider Institute und die theoretische Möglichkeit, die Bürgschaft als Gesamtschuldverhältnis aufzufassen (S. 1233 und S. 1237).
Abschließend kommt die Verfasserin (S. 1255) zu dem Ergebnis, dass die herrschende Gesamtschulddogmatik eine verfehlte Abstraktionsleistung sei, „die völlig heterogene Fallgestaltungen einem Einheitsregime unterwirft, zugleich aber ähnlich gelagerte Sachverhalte ohne überzeugenden Grund ausschließt“.
Die Verfasserin versteht es, rechtshistorische, rechtsvergleichende und rechtsdogmatishe Aspekte und Erörterungen in sinnvoller, konstruktiver Weise miteinander zu verbinden. Wohl mit Recht darf das vorliegende Werk als ein Standardwerk der Gesamtschuldverhältnisse bezeichnet werden.
Graz Gunter
Wesener
[1] Vgl. dazu Ph. Schmieder, Gesamtobligationen im römischen Recht (Berlin 2007) 365ff.
[2] D. 45, 2, 11, 1; vgl. L. Arndts, Lehrbuch der Pandekten, 6. Aufl. (1868) § 213 Anm. 4.
[3] Vgl. dazu nun A. Steiner, Die römischen Solidarobligationen (München 2009), passim, insbes. zur Frage der Klagenkonsumtion und Klagenkonkurrenz im römischen Recht.
[4] Vgl. G. Wesener, Die Durchsetzung von Regreßanspüchen im römischen Recht, Labeo 11 (1965) 341ff., insbes. 350ff.
[5] Vgl. zur Regresslehre Glosse Iurare zu C. 8, 39 ⌠40⌡, 1 ⌠2⌡.
[6] Schadensbegriff und Regreßmethoden (Heidelberg 1963).