Ludyga, Hannes, Obrigkeitliche Armenfürsorge im deutschen Reich vom Beginn der Frühen Neuzeit bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges (1495-1648) (= Schriften zur Rechtsgeschichte 147). Berlin, Duncker & Humblot 2010. IV, 429 S. Besprochen von Felix Grollmann.

 

Die Sozialrechtsgeschichte der Frühen Neuzeit ist bisher noch nicht ausreichend untersucht worden. Diese Lücke historischer Forschung will die Monographie von Hannes Ludyga, die im Sommersemester 2009 als Habilitationsschrift von der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde, für den Bereich der obrigkeitlichen Armenfürsorge schließen. Unter obrigkeitlicher Armenfürsorge werden vom Verfasser „alle rechtlichen Normen und Ordnungssysteme verstanden, deren unmittelbare Intention es war, einer Abhilfe der Armut zu dienen und die von den Inhabern der politischen Gewalt kraft ihrer Autorität im Reich ausgingen […]“ (S. 10). Als Armutsbegriff wird der in der Frühen Neuzeit etablierte ökonomisch-soziale zu Grunde gelegt, der im Gegensatz zum mittelalterlichen rechtliche Unterlegenheit nicht als Form der Armut versteht (S. 43). Der zeitliche Rahmen resultiert aus der Beobachtung, dass das „Recht der obrigkeitlichen Armenfürsorge […] am Anfang der Frühen Neuzeit […] tiefgreifende und folgenschwere Veränderungen“ (S. 359) erfuhr. Die Expansion der obrigkeitlichen Befassung mit der Armut führt der Verfasser auf eine tatsächliche Verschlechterung der Lebensbedingungen infolge der „explosionsartige[n] Bevölkerungszunahme“ (S. 28) um 1500 zurück, doch weist er auch auf die Bedeutung von „mentalitätsgeschichtliche[n] Veränderungen“ (S. 30) hin. Da die Produktion von Rechtstexten auf städtischer und territorialer Ebene in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts spürbar zurückging und erst ein Jahrhundert später neue gesetzgeberische Projekte in Gang gesetzt wurden (S. 291f.), bietet sich das Ende des Dreißigjährigen Kriegs als zeitlicher Abschluss der Arbeit an.

 

Der Autor will im Rahmen der inhaltlichen Durchdringung der rechtlichen Maßnahmen herausarbeiten, wie hoch die Bedeutung der Reformation für die Armenfürsorge zu bemessen ist (S. 12). Auch der Zusammenhang zwischen dem Ausbau der obrigkeitlichen Armenfürsorge und der Herrschaftsintensivierung (S. 12) soll bedacht werden. Arm-, Bettel- und Hospitalordnungen werden chronologisch untersucht, um die Entwicklungsgeschichte sichtbar zu machen (S. 34-292). Demgegenüber wurde die systematische Darstellungsform für die Betrachtungen zu den Formen der geschlossenen Fürsorge (S. 293-332) sowie weiteren Regelungsmodellen wie den Luxus- und Heiratsverboten (S. 333-358) gewählt. Methodisch soll im rechtshistorischen Zugang zur Geschichte der frühneuzeitlichen Armenfürsorge „ein entscheidender und grundlegend neuer Forschungsansatz“ (S. 26) liegen.

 

Am Ende seiner Untersuchung zieht der Verfasser Bilanz über die Auswirkungen der normativen und organisatorischen Maßnahmen: Die zunehmende Verarmung konnte nicht aufgehalten werden und die Sicherungsmaßnahmen blieben einem großen Teil der Hilfsbedürftigen vorenthalten (S. 365). Ohne Selbsthilfe, familiären Zusammenhalt oder kirchliche Unterstützung war der Weg aus der Armut im Regelfall verschlossen.

 

Mit seinem Werk leistet der Autor einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der frühneuzeitlichen herrschaftlichen Bemühungen um die Behebung der gehäuft auftretenden Armut. Insbesondere die mühsame Nachzeichnung der Entwicklungsstufen der normativen Maßnahmen bildet einen äußerst hilfreichen Gewinn seiner Forschung. Einen spezifischen Zusammenhang mit der Reformation kann der Verfasser nicht erkennen, sondern belegt mittels seiner vergleichenden Ausführungen zu den verschiedenen gesetzgeberischen Akten den überkonfessionellen Charakter des Ausbaus der obrigkeitlichen Armenfürsorge. Er liefert mit dieser Arbeit fernerhin eindrucksvoll den Nachweis, dass die überwiegende Erfolglosigkeit der Bekämpfung der Armut durch die Wahl der Maßnahmen von den Herrschern zumindest in Teilen verantwortet worden ist. Im Rahmen der Inventarisierung der obrigkeitlichen Unternehmungen wird deutlich, dass die Bewertung Fernand Braudels, die Armenfürsorge bestehe in der Frühen Neuzeit aus „Gesetze[n] gegen die Armen“, zwar in ihrer Einseitigkeit abgemildert werden muss, nicht aber in ihrer Tendenz. Indem der Verfasser seine rechtshistorische Analyse mit einem Exkurs zur Unterstellung der Kausalität von Armut und Kriminalität durch die Obrigkeit in der Frühen Neuzeit anreichert, kann er an dieser Stelle erkennbar machen (S. 349-352), wie infolge von nicht-empirisch gebildeten Deutungen der Sachlage, trotz grundsätzlich zutreffender Erkennung des Symptoms, von den Herrschern eine falsche Diagnose erstellt werden konnte und dies zu einer unangemessenen Behandlung der Armutsproblematik beitrug. So könnte die Geschichte des Ausbaus obrigkeitlicher Armenfürsorge auch als Fallbeispiel für die Strukturprobleme – hier vor allem den Mangel an Techniken rationaler Informationsgewinnung – frühneuzeitlicher Herrschaft interpretiert werden. Nicht in jedem Fall bedingten die Wissensdefizite aber Maßnahmen, die aus sich heraus zum Scheitern verurteilt waren. So bewertet der Autor die Luxusverbote auf Grund der wenig überzeugenden Regelungsabsicht der Herrscher, mithilfe solcher Verbote die Armen von unvernünftigen Ausgaben schützen zu können, zutreffend als von irrigen Vorstellungen geleitet (S. 341). Immerhin besteht aber die Möglichkeit, dass durch diese Vorschriften der soziale Druck auf solche Personen, die ausreichend Vermögen für übermäßige Aufwendungen besaßen, durch diese aber zu verarmen drohten, abnahm und damit deren ökonomisches Herabsinken verhindert wurde, so dass die Bewertung dieser Maßnahmen teilweise zu überdenken wäre. In Bezug auf die Erweiterung der Armenfürsorge seitens der Landesherren kommt der Verfasser zu dem Ergebnis, dass diese „in einem engen Zusammenhang mit dem Staatsbildungsprozeß“ (S. 282) steht. Diese Erkenntnis entspricht der verbreiteten Auffassung von der frühneuzeitlichen vornehmlich auf territorialer Ebene durchgeführten Herrschaftsintensivierung. Die weiteren Beobachtungen des Autors für den Bereich der Armenfürsorge ergänzen und differenzieren diese Sichtweise: Den landesherrlichen Gesetzgebungen ging häufig städtische Initiativen voraus (S. 282), wie etwa im Falle des Regelungskomplexes der Luxusverbote (S. 334). Der Verwaltungsapparat wurde ganz überwiegend unter kommunaler Aufsicht geführt; die Exekutiven der Territorien entfalteten auf dem Feld der Armenfürsorge keine nennenswerten Aktivitäten (S. 283). Vielmehr entwickelten die Kommunen ab den 1520er Jahren ein Regelungsmodell zur Armenfürsorge, das gewichtige Impulse gab und sich schlagwortartig „mit den Begriffen der Kommunalisierung, der Rationalisierung, der Bürokratisierung und der Pädagogisierung“ (S. 360) umschreiben lässt. Sichtbar wird an dieser Stelle die Stadt als Innovationsregion, in der sich das obrigkeitliche Projekt der Armutsfürsorge Bahn bricht. Insofern erscheinen die jüngeren normativen Texte der Territorialfürsten in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive als das Aufgreifen eines kommunalen Lösungsansatzes. Die hier angesprochenen Aspekte zeigen, dass der Ertrag dieser Untersuchung nicht auf die – schon als solche wertvolle – Rekonstruktion der Gesetzgebungsgeschichte der obrigkeitlichen Armenfürsorge beschränkt ist, sondern auch weitere gewichtige Forschungskontroversen aufgegriffen werden. Der Untersuchung ist ein knappes, aber nützliches Personen-, Orts- und Sachregister angefügt. Zu empfehlen ist die Lektüre des Werkes neben Rechtshistorikern insbesondere solchen Wissenschaftlern, die sich mit den frühneuzeitlichen Prozessen der Herrschaftsintensivierung und der Entwicklung der Sozialpolitik befassen.

 

München                                                                    Felix Grollmann