Longerich, Peter, Joseph Goebbels. Biographie. Siedler, München 2010. 910 S., Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Mit dem Namen Joseph Goebbels assoziiert sich gemeinhin die Personifikation jenes (all-)mächtigen Propagandaapparates, mit dessen Hilfe die nationalsozialistische Führung große Teile des deutschen Volkes bis in den Untergang auf eine bedingungslose Gefolgschaft einzuschwören verstand. Die Klärung der Frage, ob diese in der breiten Öffentlichkeit noch heute präsente Meistererzählung dem historischen Sachverhalt gerecht wird oder aber vielmehr selbst als Produkt der Bemühungen jenes Mannes gelten muss, dessen Leben und Wirken im vorliegenden Band untersucht wird, stellt der Verfasser ins Zentrum seiner Betrachtungen.

 

Peter Longerich hat Erfahrung mit dem Thema Propaganda wie auch mit dem Genre der Biographie: 1983 promovierte der heute in London lehrende Zeithistoriker und Spezialist für die Geschichte des Holocaust bei Gerhard Ritter in München mit einer Arbeit zur Presseabteilung des Auswärtigen Amtes unter Ribbentrop, 2008 veröffentlichte er seine große Monographie über Heinrich Himmler (vgl. die ausführliche Besprechung in: ZRG GA 127 (2010), S. 882-885). Bei Joseph Goebbels sieht er „alle wesentlichen Kriterien erfüllt, die nach dem heutigen Stand der Psychoanalyse eine narzißtisch gestörte Persönlichkeit charakterisieren“, vor allem die lebenslange Sucht nach Anerkennung, die in der fortlaufenden Bestätigung durch das Idol Adolf Hitler ihre Befriedigung suchte. Aufgabe des Biographen müsse es daher sein, „das von Goebbels so wirkungsvoll entworfene Selbstbild in Frage zu stellen und seine historische Rolle von Grund auf neu zu bestimmen“, darüber hinaus zu zeigen, „wie nationalsozialistische Propaganda konzipiert und durchgeführt wurde“ und damit „die behauptete Allmacht der Goebbels-Propaganda in Frage (zu) stellen“, schließlich insgesamt „einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Geschichte des ‚Dritten Reiches‘ zu leisten“, sei doch „Goebbels der wichtigste interne Chronist des Nationalsozialismus und seines ‚Führers‘, von der Wiedergründung der Partei 1924/25 bis zum Ende des Regimes“ (S. 12ff.). Dass dies alles überhaupt möglich sei, verdanke man dem Glück der Überlieferung einer einzigartigen Quelle: der Tagebücher des einstigen Propagandaministers, die, in ein einer von Elke Fröhlich am Münchener Institut für Zeitgeschichte besorgten, transkribierten Textedition im Umfang von 32 Bänden (1993-2008) der Forschung zur Verfügung stehen.

 

Über Kindheit und Jugend des 1897 geborenen Goebbels weiß der Biograph mangels Quellen nur wenig zu berichten; ein Vierteljahrhundert seines Lebens füllt gerade 20 Seiten des dickleibigen Werks. Erst mit dem Einsetzen der Tagebuchaufzeichnungen 1923 werden die Informationen dichter und wird die Darstellung umfangreicher: etwa 200 Seiten über die Jahre bis zur Machtergreifung 1933, weitere 200 bis zum Kriegsausbruch 1939, knapp 250 für die Kriegsjahre bis zum Untergang 1945. Die verbleibenden über 200 Druckseiten enthalten im Anhang zunächst kurze Hinweise zum Forschungsstand, danach den nach den 29 Kapiteln des Bandes jeweils gesondert nummerierten Endnotenapparat, die üblichen Verzeichnisse (Abkürzungen, Literatur, Abbildungen und Zitate) sowie ein Orts- und ein Personenregister. Das letztgenannte enthält nicht verlässlich alle Namen; so wird auf S. 611 erwähnt, „Draeger übernahm im Juni [1944] als Nachfolger Hunkes die Auslandsabteilung“, doch beide Namen sucht man im entsprechenden Register vergeblich.

 

Seiner Prämisse von Joseph Goebbels als einer vom Narziss schwer beeinträchtigten, auf Adolf Hitler fokussierten Persönlichkeit – „mit dem ’Schrei nach Erlösung‘, der Hitler galt, war für Goebbels [Ende 1924, W. A.] eine quälende Suche zum Abschluß gekommen, die sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren zurückverfolgen läßt“ (S. 69) – folgt der Verfasser konsequent; diese kann zwar tatsächlich aus den Selbstäußerungen und dem Verhalten des Protagonisten abgeleitet werden, verharrt aber in ihrer Genese im Unbestimmten, wenn es heißt: „Die Ursachen für ein solches gestörtes Verhältnis können vielfältig sein […] Es gehört nicht allzuviel Phantasie dazu sich vorzustellen, daß in einer vielköpfigen, mit materiellem Wohlstand keineswegs gesegneten Familie wie den Goebbels solche Bedingungen geherrscht haben können“ (S. 25). Die enge persönliche Bindung des Propagandaministers, seiner Frau und seiner Kinder an den Diktator, welcher hier ein Substitut für sein eigenes fehlendes Familienleben fand, ließ es Goebbels nicht nur stets vermeiden, „sich in innerparteiliche Bündniskonstellationen einbinden zu lassen, die ihn unter Umständen auf einen Konfrontationskurs gegen den Parteiführer hätten festlegen können“ (S. 154), sondern reichte in letzter radikaler Konsequenz nach Hitlers Suizid bis zum Selbstmord des Ehepaares und der Ermordung der sechs Kinder am 1. Mai 1945 im Angesicht des nicht mehr abzuwendenden Untergangs des nationalsozialistischen Systems.

 

Politisch forderte diese Nähe zu seinem Idol von Goebbels, der „ in den Jahren zuvor stets versucht hatte, sich als Vertreter eines ‚revolutionären Kurses‘ in der NSDAP zu profilieren“, bereits früh Geschmeidigkeit und Anpassungsfähigkeit, sodass er etwa noch im Frühjahr 1932 „endgültig auf Hitlers taktisch orientierte Verhandlungspolitik ein(schwenkte)“ (S. 184). An zahlreichen Beispielen kann der Verfasser – einer seiner Grundannahmen folgend – allerdings überzeugend nachweisen, dass der Propagandaminister bei wichtigen politischen Weichenstellungen keineswegs in die Entscheidungsprozesse eingebunden war, sondern über vieles erst gleichsam ex post facto informiert wurde: Obwohl anlässlich seiner Italienreise im Mai 1933 von Mussolini hofiert, erfuhr Goebbels erst unmittelbar vor der Vertragsunterzeichnung in Rom von dem mittlerweile in Berlin zwischen Hitler, Neurath, Göring und Blomberg verhandelten Viermächtepakt (S. 233); Gleiches gilt beispielsweise auch für die Ausschaltung und Ermordung der SA-Führung am 30. Juni 1934 (S. 267f.), das deutsche Engagement im spanischen Bürgerkrieg 1936 (S. 319), die Überlegungen zur Zerschlagung der Tschechoslowakei (S. 366) und die legendäre Erpressung des österreichischen Bundeskanzlers Schuschnigg durch Hitler am 12. Februar 1938 in Berchtesgaden (S. 371). Was die Vorbereitungen zum Krieg gegen die Sowjetunion ab Sommer 1940 anbelangt, „ließ Hitler (seinen Propagandaminister Goebbels) über diese Planungen offenkundig völlig im unklaren“ (S. 454). Aus der Sicht des Regimes erscheint dieses Vorgehen, den Propagandaapparat und dessen obersten Proponenten erst zu gegebenem Zeitpunkt zu informieren, jedoch durchaus logisch, handelt es sich doch weitgehend um prekäre, geheim zu haltende Materien, deren verfrühte Veröffentlichung den Erfolg der Unternehmen gefährdet und in Frage gestellt hätte.

 

Die Einrichtung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda war am 11. März 1933 vom Kabinett beschlossen worden; es sollte laut Goebbels „die Menschen solange bearbeiten, bis sie uns verfallen sind, bis sie auch ideenmäßig einsehen, daß das, was sich heute in Deutschland abspielt, nicht nur hingenommen werden muß, sondern auch hingenommen werden kann“ (S. 218). Longerich sieht in dieser Arbeit ein „geschlossenes System“, in dem erstens „anderslautende Stimmen grundsätzlich nicht geduldet“ wurden, zweitens die Menschen gehalten waren, „durch ihr Verhalten in der Öffentlichkeit ihre Zustimmung zur Politik des Regimes zu bekunden“ und in dem drittens „die Beweise für sein erfolgreiches Funktionieren gleich selbst in Form von Bild- und Tonaufnahmen, in der Presseberichterstattung oder auch in internen Stimmungsberichten, die es grundsätzlich darauf anlegten, die positive Resonanz der Propaganda wiederzugeben und negative Reaktionen als Abweichung von der Norm zu präsentieren“, geliefert wurden (S. 680f.). Dessen ungeachtet sollte es Goebbels, der „nicht nur ein fleißiger und unermüdlicher Arbeiter, sondern auch ein schwieriger und unangenehmer Vorgesetzter“ (S. 367) war, keineswegs gelingen, die uneingeschränkte Kontrolle über das gesamte mediale und kulturelle Leben in seiner Hand zu vereinen; maßgebliche Kompetenzen verblieben so bei Konkurrenten wie Max Amann, Otto Dietrich, Alfred Rosenberg, dem Auswärtigen Amt oder dem Propagandaapparat der Wehrmacht. Ein Führererlass vom Frühjahr 1936 stärkte hingegen seine Stellung, indem dieser anordnete, dass „das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda für alle Angelegenheiten, die in seinen Zuständigkeitsbereich fielen, die polizeilichen Kompetenzen besäße, also mit Strafandrohungen verknüpfte Verbote aussprechen konnte“ (S. 285f.).

 

Eine Aufwertung seiner Stellung erfuhr Joseph Goebbels mit dem Einsetzen der deutschen Rückschläge an den Fronten, beginnend mit der Winterkrise im Osten 1941/42, den Bombenangriffen auf deutsche Städte und dem Debakel von Stalingrad, als er den in der Öffentlichkeit zunehmend seltener auftretenden Hitler als Stimme der Staatsmacht mehr und mehr ersetzen musste, doch wurden seine Bemühungen zur radikalen Totalisierung des Krieges immer wieder – nicht zuletzt von Hitler selbst – unterlaufen; erst nach dem Scheitern des Attentats vom 20. Juli 1944 ernannte ihn der Diktator offiziell zum Reichsbevollmächtigten für den Totalen Kriegseinsatz. Daneben zeigt sich der Propagandaminister immer wieder als antisemitischer Scharfmacher ersten Ranges; Judenfeindschaft als „Lebensthema“ sei nach Longerich bei ihm „der Versuch, die Verantwortung für die schwere wirtschaftliche, politische und kulturelle Krise der Zeit irgendwo abzuladen“, ein „bequemer Ersatz für die gesellschaftliche Analyse, zu der er nicht in der Lage war“ (S. 686). 1943 musste er allerdings eine Propagandaoffensive, zu der die Untersuchung der sowjetischen Massaker an polnischen Offizieren bei Katyn den Anstoß lieferte und die die Ermordung der Juden gleichsam als einen Akt deutscher „Selbstverteidigung“ und als Ziel der deutschen Kriegsführung offen benannte, abbrechen, „da die Absicht dieser Propaganda, die deutsche Bevölkerung zu Mitwissern des Judenmordes zu machen, in der Bevölkerung durchschaut und negativ kommentiert wurde“ (S. 684).

 

In der Gesamtschau liest sich die vorliegende Biographie cum grano salis als eine Geschichte von Aufstieg und Fall des Dritten Reiches, dargestellt aus der Perspektive seines Propagandaministers und kritisch kommentiert vom Verfasser. Verantwortlich für diesen Eindruck sind der streng chronologische Aufbau der Darstellung und die fast erdrückende Dominanz der Goebbels-Tagebücher als Quellengrundlage, ein Vorwurf, den der hier zu besprechende Band pikanter Weise selbst gegen Toby Thackers Darstellung aus dem Jahr 2009 ins Treffen führt (S. 700). Es wäre sicher verfehlt, dem erfahrenen Peter Longerich generalisierend einen sorglosen Umgang mit dem Material zu unterstellen, artikuliert er doch – wie am Beispiel der Interpretationen des Reichstagsbrandes und seiner möglichen Urheber (S. 215) oder von Hitlers Rolle in der Affäre Blomberg-Fritsch (S. 370) sichtbar wird – nicht nur deklamatorisch immer wieder seine kritische Distanz zu den Goebbels’schen Aufzeichnungen. Was der Kenner der Primärquelle in der Arbeit ständig wiederfindet, ist vielmehr die prägende Struktur der Tagebuchaufzeichnungen: Ihrem Sog erliegt die Studie zu häufig und lässt den Propagandaminister sehr oft so erscheinen, wie er sich selbst zeichnete - gerade dies wollte der Verfasser aber vermeiden. Hierin liegt auch der auffälligste Unterschied zu seiner konsistenter anmutenden Lebensbeschreibung Heinrich Himmlers, die sich aus einer deutlich variableren Quellenbasis speist. Die auf nur 17 Seiten komprimierte Quintessenz (S. 675-691) kann somit als stärkster Teil dieser Biographie gelten, die einmal mehr die ganz auf die Persönlichkeit Hitlers zugeschnittene, charismatische Struktur der nationalsozialistischen Herrschaft offenbart, der auch Joseph Goebbels verfallen war.

 

Kapfenberg                                                                                        Werner Augustinovic