Lessing, Hans-Ulrich, Wilhelm Dilthey. Eine Einführung (= UTB 3486). Böhlau, Köln 2011. 199 S. Besprochen von Martin Moll.

 

Als der Rezensent 1980 sein Geschichtestudium begann, gehörte die Beschäftigung mit der (Geschichts-)Philosophie Wilhelm Diltheys (1833-1911) zum Curriculum der einschlägigen Einführungslehrveranstaltungen. Mittlerweile hat sich der theoretische Teil des Studiums anderen, angeblich moderneren Schwerpunkten zugewandt, zu denen Dilthey nicht mehr zählt. Dies ist bedauerlich, stammen von diesem Philosophen doch klassische Texte zum System der Geisteswissenschaften, deren Arbeitsfeldern, Methoden und Hermeneutik.

 

Hans-Ulrich Lessing, der an der Dilthey-Forschungsstelle in Bochum arbeitet, ist bestens ausgewiesen, dem Vergessen Diltheys gegenzusteuern. Sein kleines Büchlein, das dem boomenden Genre knapper und knappster Einführungen zuzurechnen ist, orientiert sich ausweislich des Klappentextes ganz an den Bedürfnissen von Studierenden des Faches Philosophie, sollte darüber hinaus jedoch auch Historiker ansprechen. Eine klassische Biographie strebt Lessing nicht an, doch liefert das erste Kapitel immerhin „Basisdaten zu Leben und Werk“; beschlossen wird der Band mit einer detaillierten Übersicht zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, welche die zahlreichen Werkausgaben vorstellt. Der Hauptteil des Buches befasst sich hingegen mit Diltheys Philosophie und deren diversen großen Themenfeldern.

 

Bekannt ist Dilthey heute vor allem noch wegen seiner Versuche einer philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften, niedergelegt in seiner „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ von 1883 (Kapitel 2). Hier wie auch in seiner Hermeneutik (Kapitel 5) grenzte Dilthey seinen Gegenstand von den damals aufblühenden Naturwissenschaften ab, indem er deren jeweils verschiedene Zugänge zu ihren Forschungsobjekten beschrieb und für die Geisteswissenschaften eine primär auf dem „Verstehen“ des Forschers beruhende Methodik postulierte. Dilthey entwickelte darüber hinaus eine Philosophie des Lebens (Kapitel 3), lieferte Beiträge zu einer deskriptiven oder Strukturpsychologie, die damals noch den Geisteswissenschaften zugerechnet wurde (Kapitel 4), und entwarf ferner eine Weltanschauungslehre (Kapitel 7), um nur die wichtigsten Arbeits- und Interessengebiete dieses unermüdlich schreibenden Gelehrten zu umreißen.

 

Gerade diese enorme Produktivität erschwert allerdings das Eindringen in Diltheys Werk, denn die meisten seiner zahlreichen Vorhaben blieben mehr oder minder unvollendet. Nur partiell gelungen ist schließlich Lessings Bestreben, die Kernaussagen Diltheys einer studentischen Leserschaft 100 Jahre nach dem Tod des Protagonisten näher zu bringen, denn der Text arbeitet viel zu stark mit Dilthey-Zitaten, die zwar keineswegs in einer antiquierten Sprache gehalten sind, aber wegen ihrer häufigen Unbestimmtheit dem heutigen Leser fremd anmuten. Hier hätten mehr eigene Formulierungen und Synthesen Lessings, stärker angereichert durch leider nur spärlich eingesetzte Beispiele, dem Verständnis gut getan. Auch begnügt sich der Text weitgehend mit einer Wiedergabe von Diltheys Theorien, denen gegenüber die kritische Auseinandersetzung eindeutig zu kurz kommt.

 

Für Studierende stellt dieser kompakte Band, der eine exzellente Einbettung Diltheys in die philosophischen und methodischen Debatten seiner Zeit bietet, mithin eine freilich lohnende Herausforderung dar.

 

Graz                                                                                       Martin Moll