Krise, Reformen - und Kultur.
Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806, hg. v. Holtz, Bärbel (=
Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, Neue Folge,
Beiheft 11). Duncker & Humblot, Berlin 2010. 318 S., Abb. Besprochen von
Werner Schubert.
Der Band enthält die Vorträge, die auf der Jahrestagung der Historischen Kommission im September 2008 im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz gehalten worden sind. Er schließt den dreiteiligen Publikationszyklus der Kommission ab, die sich zunächst mit den Finanzen (Beiheft 9) und dem Militär (Beiheft 10) befasst hatte. Der Begriff „Kultur“ steht für die als geistiges und künstlerisches Leben zu begreifende Cultur, die in zunehmendem Maße Bestandteil staatlichen Handelns wurde (S. 11). Nach dem Überblick von Holtz: „Zur Forschung über Krise, Reformen – und Kultur“ (S. 9ff.) behandelt der erste Hauptteil des Bandes Fragen der „’Vor’-Reformen und Krise“ und der „Krise“ (S. 21ff.). Kloosterhuis beschreibt die Tätigkeit des „Generaldirektoriums“ als Kultursbehörde (bis 1808) insbesondere in der Gesundheits- und Medizinalverwaltung sowie in der Kirchen- und Schulverwaltung, für welch letztere auch der Geheime Etatsrat zuständig war, und stellt die einschlägigen Archivalien (S. 35ff.) zusammen. Stefan Samerski befasst sich mit Preußen und den Jesuiten, die funktional und personell im Schulwesen überlebten (S. 45ff.). Georg Manten stellt den Reformcharakter des Religionsedikts vom 9. 7. 1788 insbesondere im Hinblick auf das Toleranzprinzip und dessen Schranken, und auf den innerkirchlichen Frieden dar (S. 64ff.). Unter der Überschrift „Geschmacksreform. Zeichenunterricht und staatliche Gewerbeförderung an der Breslauer Provinzialkunstschule und dem Direktorat von Carl Bach“ geht es um die 1781 begründete Breslauer Kunstschule (S. 87 f.; Claudia Sedlarz).
Die Beiträge des zweiten Hauptteils befassen sich mit den Reformen von 1806-1815. Ausgehend von einer Antrittsvorlesung Ernst Rudolf Hubers von 1957: „Zur Problematik des Kulturstaats“ – ein Begriff, den wohl Fichte erstmals benutzte (S. 138) – legt der Züricher Rechtshistoriker Andreas Thier dar (S. 123ff.), dass der natur- und vernunftrechtliche Diskurs des 18. Jahrhunderts zunehmend Bildung und Kultur nicht mehr vorrangig an sozialdisziplinierenden Zwecksetzungen neuzeitlicher Polizeystaatlichkeit ausrichtete (S. 128). Vielmehr wurde das staatliche Handeln auf die Förderung des Individuums ausgerichtet und im Umfeld der Französischen Revolution die „Beziehung des Staates zur Kultur und zur Bildung vollends neu bestimmt“. Holtz befasst sich mit der „Section“ des 1808 geschaffenen Innenministeriums „für Cultus und öffentlichen Unterricht – ein Träger der Reform?“ (S. 146ff.). Diese Sektion, aus der 1817 das Kultusministerium (Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten) hervorging, stand bis Frühjahr 1810 unter der Leitung Wilhelm von Humboldts, dessen Nachfolger der spätere preußische Innenminister Friedrich von Schuckmann wurde. Friedrich Schleiermacher leitete bis zu seinem Weggang an die Berliner Universität die Abteilung für den „öffentlichen Unterricht“. Holtz beschreibt im Einzelnen die Binnenstruktur und Aufgabenbereiche der „Section“, deren wichtigste Beamte sowie anhand ausgewählter Beispiele die Amtspraxis. Im Einzelnen relativiert Holtz die Bedeutung Humboldts für die sog. „Bildungsreform“ (S. 157f.) und stellt anschließend fest, dass zwar die „Section“ die erste zentrale „Culturbehörde“ auf Preußens Weg zum Kulturstaat war, dass es in der Sektion jedoch „keine gleichermaßen strategisch denkende wie verwaltungspraktisch handelnde Persönlichkeit“ wie Hardenberg und Gneisenau für die allgemeine Staatsverwaltung beziehungsweise den Militärbereich gegeben habe (S. 168). Nach dem Verlust der Landesuniversität Halle im Jahre 1807 war – so Hans-Christof Kraus in dem Beitrag: „Die Gründung der Universität Berlin im Kontext der allgemeinen Bildungsentwicklung um 1800“ (S. 171ff.) – eine Universitätsgründung „unausweichlich“, mit welcher der König mithilfe einer „tatkräftigen Bildungserneuerung und selbstbewussten Kulturpolitik die Grundlage für einen Wiederaufstieg Preußens innerhalb Deutschlands und vielleicht sogar Europas“ schaffen wollte (S. 188). Der preußische Weg unterschied sich deutlich vom französischen Modell der Fach- und Elitehochschulen sowie dem Festhalten Großbritanniens am überkommenen Hochschulwesen (S. 174ff.) und beruht auf vier zentralen Einzelaspekten: „Festhalten am Modell der ‚universitas’ der Wissenschaften (vier Fakultäten), Etablierung des leitenden Prinzips der Einheit von Forschung und Lehre, Anwendung des Excellenzprinzips und Abkehr vom Modell der überkommenen deutschen Landesuniversität (S. 189f.). Andreas Arndt bespricht Schleiermachers Schrift: „Gelegentliche Gedanken über die Universitäten im deutschen Sinn“ (1808) insbesondere im Kontext ihrer Entstehung (S. 191ff.).
Der Abschnitt „Reformen im Ausblick“ (S. 225ff.) beginnt mit dem Beitrag von Matthias Wolfes: „Konstruktion der Freiheit. Die Idee einer bürgerschaftlichen politischen Kultur im staatstheoretischen Denken Friedrich Schleiermachers“ (S. 227ff.). Wolfes arbeitet für die Zeit nach 1814 Schleiermachers staatstheoretische Konzeption heraus, die nach Schleiermacher eine vom staatlichen Bereich getrennte Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft voraussetzte: „Sie soll die Basis für die Etablierung des politischen Selbstbewusstseins des Bürgertums ebenso bilden wie für den Prozess der rechtlichen Institutionalisierung einer im spezifischen Sinne bürgerlichen Öffentlichkeit“ (S. 245). Ausführlich berichtet Klaus Neitmann in seinem Beitrag: „Adolph Friedrich Riedel, der Codex diplomaticus Brandenburgensis und der Verein für Geschichte der Mark Brandenburg“ (S. 248ff.) über die Aufgabenstellungen, Organisationsformen und Antriebskräfte der brandenburgischen Landesgeschichtsforschung zwischen 1830 und 1848. In diesem Zusammenhang bringt Neitmann auch eine Biographie über Georg Wilhelm von Raumer, der wie Riedel sich um eine quellenmäßige Erschließung der brandenburgischen Landesgeschichte verdient gemacht hat. W. Neugebauer endlich widmet sich den Verflechtungen der preußischen Kultusverwaltung mit gesellschaftlichen Gruppen insbesondere in den Musik-, Kunst- und Geschichtsvereinen (S. 299).
Mit dem vorliegenden Band ist ein weiterer Bereich der preußischen Politik vor und nach 1806 erschlossen. Von rechts- und verfassungshistorischem Interesse sind vor allem die Beiträge von Manten, Thier, Holtz und Wolfes. Nützlich wäre ein Personenregister und ein Mitarbeiterverzeichnis gewesen. Hinsichtlich einer zusammenhängenden Darstellung der Tätigkeit des preußischen Kultusministeriums sei auf die von Wolfgang Neugebauer betreute Edition: „Acta borussica“, NF, Reihe 2: Preußen als Kulturstaat, Bd. 1 und 2, Berlin 2009, verwiesen, eine Edition, die auch für den Rechtshistoriker von großer Bedeutung sein dürfte.
Kiel |
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