Kasseckert, Christian, Straftheorie im Dritten Reich. Entwicklung des Strafgedankens im Dritten Reich (= Das Strafrecht vor neuen Herausforderungen 21). Logos-Verlag, Berlin 2009. XVI, 215 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die Frage nach dem Sinn und Zweck der Strafe ist so alt wie das Strafrecht selbst und hat im Lauf der Zeit verschiedene Theorien jeweils unterschiedlicher Akzentuierung evoziert. Moderne Interpretationen von Strafe präsentieren sich heute in aller Regel als Konglomerat, das Elemente der absoluten Theorien von Vergeltung und Sühne ebenso beinhaltet wie generalpräventive und spezialpräventive Gesichtspunkte mit positiver oder negativer Wirkungsrichtung.

 

Der Würzburger Dissertant Christian Kasseckert, Jahrgang 1977 und laut Verlag mittlerweile als Rechtsanwalt mit dem Schwerpunkten Steuer-, Gesellschafts- und Erbrecht in Erlangen tätig, untersucht anhand des eingangs dargestellten theoretischen Instrumentariums das spezifische Wesen der Strafe unter den politischen Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur. Als Ergebnis seiner Studie präsentiert er insgesamt neun Thesen, die er noch einmal übersichtlich zusammengefasst an prominenter Stelle - ganz am Ende der Arbeit (S. 199) – placiert. So hätten die Bemühungen der Strafrechtsexperten im Dritten Reich darauf abgezielt, die Interessen einer von den Machthabern definierten Volksgemeinschaft jenen der Individuen überzuordnen und den Schutz dieser Volksgemeinschaft als einen Hauptzweck des Strafrechts zu etablieren. Durch die Reduktion des Sühnebegriffs auf eine Reinigungsfunktion sei auch dieser zum Zweck des Schutzes instrumentalisiert worden. Zunächst auf bestimmte Tätertypen beschränkt und in weiterer Folge auf alle Gegner des Nationalsozialismus ausgeweitet, seien Aussonderung und Ausmerzung zum Schutz der Volksgemeinschaft und damit zur Sicherung der nationalsozialistischen Herrschaft schließlich in der Rechtsprechung des Volksgerichtshofs zum alleinigen Strafzweck avanciert.

 

Diese Erkenntnisse sind wenig überraschend und für Kenner der Materie alles andere als neu, machten doch die Exponenten der Staatsgewalt selbst hinsichtlich ihrer Marschrichtung aus ihren Herzen keine Mördergrube. So propagierte der Nationalsozialist Gerd Rühle schon 1934 öffentlich  in seiner populären dokumentarischen Darstellung „Das Dritte Reich. Das erste Jahr 1933“ unter dem Kapitel „Auf dem Wege zum Deutschen Recht“, S. 349, unmissverständlich den utilitaristischen Schutz der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft als primären Zweck der Strafe: „Ausgehend von der Erkenntnis, dass die Gemeinschaft über dem einzelnen steht und dass der Staat die Pflicht hat, diese Gemeinschaft vor dem asozialen Rechtsbrecher zu schützen, musste wieder der Grundsatz zur Geltung gebracht werden, dass der Staat strafen muss“. Es ist zudem in der Forschung lange bekannt, dass die aus dem Führerprinzip abgeleitete Tendenz der nationalsozialistischen Gesellschaftsordnung zur Überlagerung des Normenstaats durch den Maßnahmenstaat auch im gesamten Rechtssystem - und damit natürlich auch im Strafrecht - einen grundlegenden Wandel in Richtung einer systemstabilisierenden Instrumentalisierung initiierte. Adolf Hitlers notorische Abneigung gegen die formale Juristerei hat sich im Wesentlichen aus dem Wunsch genährt, seine absolute Führergewalt der Bindungswirkung rechtlicher Normen zu entziehen, ein Faktum, das - wie auch Kasseckert (S. 70) ausführt - nicht unwesentlich zum Scheitern der Strafrechtsreform in der Vorkriegszeit beigetragen haben dürfte.

 

Der Nutzen der vorliegenden Arbeit liegt somit weniger in der Spektakularität ihrer Ergebnisse als vielmehr im akribischen Nachvollziehen einzelner Entwicklungsschritte in der Akzentuierung des Strafgedankens. Der Verfasser spürt dessen spezifischen Facetten im legislativen Bereich (Entwürfe der Strafrechtskommission bis zum Scheitern der Strafrechtsreform, Gesetze und Verordnungen im Weg der Novellierung), in der Judikatur (Spruchpraxis des Reichsgerichts und des Volksgerichtshofs) und auch auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft nach und stellt die strafrechtliche Schwerpunktverlagerung in ein historisches Kontinuum von der Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik Deutschland. Dabei beschränkt sich die Arbeit allerdings auf die Auswertung relevanter zeitgenössischer Rechtsquellen und kommentierender Stimmen aus der deutschen juristischen Fachwelt. Eine umfassende  Kontextualisierung, etwa durch das Thematisieren der auf den Justizapparat einwirkenden Kräfte von Seiten der konkurrierenden Führungseliten des Dritten Reiches (Wer intervenierte mit welchen Absichten, welchen Zielen und welchem Erfolg?), bleibt Kasseckert schuldig.

 

Der Verfasser untersucht zunächst drei grundlegende Denkschriften (Hanns Kerrl 1933; Hans Frank 1935/36; Akademie für Deutsches Recht 1934), sodann mehr als zehn Entwürfe der Strafrechtskommission nebst Berichten von Gürtner und Freisler. An Gesetzen kommen in der Folge das Gewohnheitsverbrechergesetz (24. 11. 1933), die Verratsnovelle (24. 4. 1934), das Blutschutzgesetz (15. 9. 1935) und die Strafgesetznovelle vom 4. 9. 1941 zur Sprache, an Verordnungen jene über den Vollzug von Freiheitsstrafen und von Maßregeln der Sicherung und Besserung, die mit Freiheitsentziehung verbunden sind (14. 5. 1934), gegen Volksschädlinge (5. 9. 1939), zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher (4. 10. 1939), gegen Gewaltverbrecher (5. 12. 1939), die Änderung der Vollstreckungsanordnung § 48 n. F. (22. 7. 1940) und die Jugendstrafrechtsverordnung (6. 11. 1943). Kasseckerts Auswahl an Urteilen des Reichsgerichts nach 1933 orientiert sich an dieser stufenweisen Verschärfung der Normen durch den Gesetzgeber, die von ihm vorgestellten Urteile des Volksgerichtshofs gliedert er in drei chronologisch aufeinander folgende Phasen (ab Gründung 1934-1938; nach Kriegsausbruch 1939-1942/43; gegen Ende des Dritten Reiches ab 1943).

 

Manches, was strafrechtlich im Dritten Reich geboren und vom Verfasser aufgegriffen wurde, wirkt bis in die unmittelbare Gegenwart, wenn etwa mit dem „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ vom 24. 11. 1933 der Grundsatz der Zweispurigkeit der staatlichen Reaktion, bestehend aus der Strafe als Mittel der Sühne und den vom Gedanken der negativen Spezialprävention geprägten Maßregeln zum Zweck des Schutzes, zementiert wurde. Heute mehr denn je - gedacht sei beispielsweise an die Diskussion um die Zulässigkeit der Sicherungsverwahrung von gefährlichen Sexualstraftätern – erregt diese Thematik ungebrochen die Gemüter auch einer breiteren Öffentlichkeit und sorgt für hitzige Diskussionen. Demnach kann dieses Buch ungeachtet der Frage, ob man nun – wie Kasseckert - der nationalsozialistischen Lesart der Strafzwecke den Charakter einer eigenständigen „neuen“ Straftheorie zubilligen oder diese doch als Extremauslegung in die „alten“ klassischen Straftheorien einordnen mag, auch zum Verständnis gegenwärtiger  Rechtsprobleme beitragen und damit auf jeden Fall mit Gewinn studiert werden.

 

Kapfenberg                                                                 Werner Augustinovic