Junginger,
Horst, Die Verwissenschaftlichung der „Judenfrage“ im
Nationalsozialismus (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der
Universität Stuttgart 19). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011
480 S. Besprochen von Martin Moll.
Die
Judenemanzipation, die in Mittel-, West- und Nordeuropa bis zum Ersten
Weltkrieg zu einer rechtlichen und großteils auch faktischen Gleichstellung der
jüdischen Minderheit geführt hatte, warf für gestandene Antisemiten das Problem
auf, wie man in einem säkularen Zeitalter mit rasch nachlassenden religiösen
Bindungen den Kampf gegen die Juden neu begründen und wie man die
assimilierten, nicht mehr in Gettos lebenden jüdischen Menschen von ihrer
Umwelt unterscheiden könne, um auf dieser als wissenschaftlich ausgegebenen
Basis weitere Diskriminierungen fordern oder umsetzen zu können. An der „Verwissenschaftlichung
der Judenfrage“ beteiligten sich zahlreiche akademische Disziplinen, allen
voran die Rassenkunde, deren magere Resultate jedoch keinen praktikablen Ausweg
aus dem Dilemma wiesen, die Judeneigenschaft einer Person nur über ihre oder
ihrer Vorfahren Zugehörigkeit zum mosaischen Glauben festlegen zu können.
An diesem
Punkt setzt der 2010 an der Universität Tübingen habilitierte
Religionswissenschaftler Horst Junginger an. Anders als der Buchtitel
nahelegt, befasst er sich lediglich mit einem schmalen Ausschnitt sämtlicher
Bemühungen, die vielbeschworene Judenfrage auf vermeintlich sicheren,
wissenschaftlichen Boden zu stellen. Sein eigentliches Thema ist der
unheilvolle Beitrag der an der Universität Tübingen angesiedelten,
protestantischen Religionswissenschaft. Die Auswahl von Disziplin und Ort
begründet der Verfasser mit der ungebrochenen Linie des schwäbischen
Antisemitismus, die sich nahtlos von der Universitätsgründung am Ende des 15.
Jahrhunderts bis zum Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 erstreckte; das
Schlusskapitel behauptet sogar frappierende Kontinuitäten lange über 1945
hinaus.
Ungeachtet
dieser engen Herangehensweise zerfasert die Arbeit auf weite Strecken, da der
Schauplatz Tübingen als roter Faden einer manchmal sogar über Deutschland
hinausweisenden Untersuchung nicht recht taugt. So wird sowohl die
Herausbildung einer jüdischen Religionswissenschaft als auch ihres
protestantischen Pendants anhand zahlreicher Gelehrter und ihrer Werke
langatmig abgehandelt. Die Kernkapitel des Bandes präsentieren dann einige
wenige Tübinger evangelische Theologen, die in dem Vierteljahrhundert vor 1945
in der Tat Erschreckendes zu Papier brachten – und dies mit einer Redundanz,
der leider auch Jungingers Text erliegt. Die Verbindung zur Praxis,
quasi der Lackmustest für Rezeption und Einfluss dieser Männer, knüpft der
Autor durch Biographien aus Tübingen stammender oder mit der dortigen Universität
verbundener Exekutoren des Holocaust, deren Verbrechen äußerst detailreich
geschildert werden.
Bei den diesen
schauderhaften Ereignissen gewidmeten Abschnitten fragt man sich allerdings, wo
hier der Konnex zu den Bestrebungen zur Verwissenschaftlichung liegen soll,
abgesehen von einem mehr unterstellten als bewiesenen Einfluss der
evangelischen Elite Tübingens auf dortige Studierende. Interessant sind jene Teile,
die den Eifer und die Methoden nachzeichnen, mit denen das NS-Regime und/oder
ihm ideologisch nahestehende Institutionen sowie Gelehrte bemüht waren, das
Judentum hinsichtlich seiner Geschichte, Religion, Kultur usw. – selbstredend
objektiv – zu erforschen. Bekannt ist hingegen, dass dies alles dem Zweck
diente, den postulierten unwandelbaren, schädlichen Einfluss und Charakter der
Juden von der Antike bis in die Gegenwart nachzuweisen. Blass bleibt schließlich
die Verschränkung dieser protestantischen Anstrengungen mit den übrigen an dem
Gesamtunternehmen beteiligten, akademischen Disziplinen. Trotz vieler
interessanter Informationen, die der Verfasser aus einem enorm breiten
Quellenkorpus gewonnen hat, wird somit bestenfalls ein Ausschnitt der Thematik
abgehandelt.
Graz Martin
Moll