Jüdisches Vereinswesen in Österreich im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Adunka, Evelyn/Lamprecht, Gerald/Traska, Georg (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien 18). StudienVerlag, Innsbruck 2011. 295 S., Abb. Besprochen von Martin Moll.

 

Die „Jüdischen Studien“ sind eine junge, seit ihrer institutionellen Verankerung während der 1990er Jahre jedoch boomende Disziplin. Als Teil dieser Forschungs- und Publikationsbemühungen legt das an der Karl-Franzens-Universität Graz verankerte „Centrum für Jüdische Studien“ nunmehr bereits den Band 18 seiner Schriftenreihe vor, den Gerald Lamprecht, der Leiter des genannten Centrums, zusammen mit zwei Wiener Kollegen herausgegeben hat.

 

Dem Thema des Bandes: Jüdisches Vereinsleben in Österreich während der letzten 200 Jahre, liegt die Annahme zugrunde, dass die im Untersuchungszeitraum – trotz formalrechtlicher Emanzipation bzw. Gleichstellung – weiterbestehende Ausgrenzung der Juden aus den Mehrheitsgesellschaften dazu führte, dass assimilierte ebenso wie orthodoxe Juden ihr eigenes Vereinswesen ausbilden mussten, dies umso mehr, als sie seit den 1880er Jahren der sogenannte Arierparagraph aus zahlreichen Vereinen, denen sie bislang angehört hatten, ausschloss. Freilich lassen sich die Anfänge des jüdischen Vereinswesens bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen; die im Zeichen von Nationalismus und Antisemitismus zunehmende Segregation gab der Vereinsbildung jedoch einen massiven Impuls. Im Ergebnis hatte sich um 1900 eine reichhaltige jüdische Vereinslandschaft herausgebildet, die den religiösen, sozial-karitativen, künstlerisch-volksbildnerischen, weiblichen und sportlichen Bereich ebenso abdeckte wie akademische (Studenten-)Verbindungen.

 

Da sämtliche dieser Vereine nach dem „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland liquidiert wurden, kreisen alle Beiträge dieses Sammelbandes um eine Spurensuche nach einer 1938 untergegangenen und nach 1945 nur rudimentär wieder auferstandenen Welt. Ironischerweise bilden die Akten des NS-Stillhaltekommissars, der ab Frühjahr 1938 die (nicht nur jüdische) Vereinslandschaft neu zu ordnen, sprich: auf weite Strecken zu liquidieren hatte, eine wesentliche Quellengrundlage der hier versammelten Studien. Darüber hinaus haben die Autoren Akten der Vereinsbehörden, die Tagespublizistik und das Schrifttum der Vereine selbst ausgewertet.

 

Nach einer den Forschungsstand und die Fragestellungen des Bandes bilanzierenden Einleitung der Herausgeber widmen sich 14 wissenschaftliche Beiträge sowie ein Erlebnisbericht eines Zeitzeugen dem jüdischen Vereinswesen, wobei der Schwerpunkt verständlicherweise auf Wien liegt, wo bis zum Zweiten Weltkrieg die mit Abstand größte jüdische Gemeinde lebte. Je ein Aufsatz behandelt immerhin das jüdische Vereinsleben in Graz und Linz; das übrige Österreich kommt nur en passant vor. Der Bogen spannt sich von Studien, die ein bestimmtes Territorium abdecken, über spartenspezifische Themen (karitative, Sport-, Theater-, Alpen- und Frauenvereine) bis hin zu kleinteiligen Arbeiten über die in einem bestimmten Wiener Gebäude angesiedelten Vereine, verbunden mit einer Spurensuche bis in die Gegenwart. Einige Autoren verbinden ihre Befunde mit analytischen Fragestellungen, andere begnügen sich leider mit einer chronikartigen Aufzählung von Vereinsnamen, Gründungsdaten, Protagonisten und Tätigkeiten, was diese Beiträge in die Nähe von Lexikonartikeln rückt und sie wegen der Datenfülle nicht leicht lesbar macht.

 

Man hätte sich ab und zu gewünscht, dass das jüdische Vereinsleben nicht so stark von seiner nicht-jüdischen Umwelt isoliert, sondern stärker in den gesamtgesellschaftlichen Kontext eingebettet worden wäre. Obwohl die Lektüre an den Leser durchaus hohe Anforderungen stellt, liegt hier doch eine engagierte Bestandsaufnahme vor, die wesentliche Grunddaten zum jüdischen Vereinswesen des 19. und 20. Jahrhunderts mitteilt, auf der künftige Studien aufbauen können.

 

Graz                                                                                       Martin Moll