Hornung, Ela, Denunziation als soziale Praxis. Fälle aus der NS-Militärjustiz. Böhlau, Wien 2010. 377 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Seit mittlerweile zwei Jahrzehnten hat sich – ausgehend von Studien Robert Gellatelys, Klaus-Michael Mallmanns und Gerhard Pauls zur Geheimen Staatspolizei (Gestapo) des Dritten Reiches - die Denunziationsforschung als eigenes Feld etabliert. Ela Hornung will die bisher gewonnenen Erkenntnisse durch Untersuchung des Phänomens in der Endphase des Nationalsozialismus im Umfeld der Wehrmacht bereichern und dieses Ziel methodisch durch die Verknüpfung von schriftlicher und mündlicher Quellenauswertung – sie spricht selbst vom Versuch, „von einer Makro- zu einer Mikroauswertung zu spezifizieren“ (S. 10) - anpeilen.

 

Die 1959 in Bamberg geborene Wissenschaftlerin, deren korrekter Name laut Website der Universität Wien eigentlich Michaela Hornung-Ichikawa lautet, ist Germanistin und Historikerin, wurde 1998 mit einer „biographischen Fallrekonstruktion“ promoviert, hat sich der Frauenforschung und der Oral History verschrieben und sich 2006 nach längerer Projektbeschäftigung mit dem Delikt der Wehrkraftzersetzung mit der nun im Druck vorliegenden Arbeit als Privatdozentin für Zeitgeschichte in Wien habilitiert. Darüber hinaus sei sie auch „Psychoanalytikerin in Ausbildung“. Wie zu zeigen sein wird, sind viele dieser hier angesprochenen Merkmale der individuellen Biographie der Verfasserin auf die eine oder andere Art in ihre Habilitationsschrift eingeflossen.

 

Bereits die Themenwahl verdeutlicht die offensichtliche Vorliebe Hornungs für exemplarische Darstellungen. Die Basis ihrer Arbeit bildet nämlich ein im Österreichischen Staatsarchiv lagernder, eng begrenzter Bestand von kapp 200 Akten der 1944 eingerichteten Außenstelle Wien des Zentralgerichts des Heeres Berlin zu Verfahren aus den Jahren 1939 bis 1945. Schon 1992 hat der namhafte Militärhistoriker Manfred Messerschmidt diesen Bestand für einen Aufsatz zum Thema Denunziation genutzt, der in Wolfram Wettes Sammelband „Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten“ publiziert worden ist. Drei „ausführliche lebensgeschichtliche Interviews, die tiefenhermeneutisch als Fallrekonstruktionen analysiert wurden“ (S. 9f.), sollen das archivalische Material ergänzen.

 

Der Untertitel der vorliegenden Studie, Denunziation als soziale Praxis, ist identisch mit der Überschrift von deren zentralem, sich über etwa 160 Druckseiten erstreckendem Kapitel, das die Verfasserin wiederum nach lokalen Gesichtspunkten der Tatbegehung in drei Einheiten (persönliches Umfeld mit Wohnung und unmittelbarer Nachbarschaft , weiteres Umfeld, militärisches Umfeld) teilt. Vorgeschaltet werden ein Einleitungsteil mit einer Zusammenfassung des Forschungsstandes und mit methodischen Erörterungen sowie eine Überblicksdarstellung zur nationalsozialistischen Militär- und Strafjustiz. Dem Hauptkapitel folgt ein längerer Abschnitt „Sichtweisen von Akteuren“ mit einer ausführlichen Fallrekonstruktion und den Interviews mit zwei Soldaten, bevor das Buch mit einem Resümee und dem Anhang, der auch kurze Biographien ihrer drei Interviewpartner enthält, schließt. Anzumerken ist, dass die Namen der Akteure von der Verfasserin weitgehend anonymisiert wurden; ein Interviewpartner, der bekannte Linksaktivist und einer der Vizepräsidenten des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, Hugo Pepper, hingegen „wollte die Nennung seines Namens, was sein Selbstbewusstsein und seinen Stolz auf seine Widerstandshandlungen ausdrücken könnte“ (S. 311, Fußnote 1129).

 

Denunziationen seien – so Hornung – „fast immer ein Ergebnis gesellschaftlicher und staatlicher Interaktionen“, wobei die Unterscheidung zwischen berechtigter Meldung oder Mitteilung an eine Behörde und böswilliger Denunziation „nur am Einzelfall und im jeweiligen (politischen) Kontext“ getroffen werden könne; Anzeigen von politischen Delikten fielen jedoch „grundsätzlich unter Denunziation, weil sie die Freiheit der offenen politischen Meinungsäußerung unterbanden“ (S. 26f.). Mit der Schaffung der Tatbestände Heimtücke, Spionage, Freischärlerei, unerlaubte Entfernung, Fahnenflucht und Zersetzung der Wehrkraft seien „terroristische Instrumentarien zur Aufrechterhaltung des ‚Durchhaltewillens‘ von Soldaten und Zivilpersonen installiert“ und flankierend durch eine „extensive Ausweitung der Interpretation des Tatbestandsmerkmals Öffentlichkeit“ verschärft worden; die Militärjustiz agierte demnach „weder in juristisch-formeller Hinsicht korrekt, noch war sie legitim“ (S. 65 und S. 332). Zu wenig berücksichtigt werden von der Verfasserin hier allerdings der Kontext einer sich dramatisch zuspitzenden Lage an den Fronten mit der damit verbundenen Notwendigkeit, einer Auflösung der allgemeinen Disziplin wirksam gegenzusteuern, und die Tatsache, dass auch demokratische Staaten viele der aufgezählten Delikte zu ihrem Rechtsbestand zählen, wie ein Blick auf das Militärstrafgesetz der Republik Österreich zeigt. Auch stellt sie an anderer Stelle resümierend fest: „Politische Motive waren weder auf der Seite der DenunziantInnen noch auf der Seite der angezeigten Personen die dominanten Faktoren“ (S. 334). Ihre Bemerkung, dass „denunziatorisches Verhalten immer systemloyal (blieb)“, ist selbstverständlich und muss als Gemeinplatz gelten, da nicht vorstellbar ist, wie im behandelten Kontext eine gegen das System gerichtete Denunziationshandlung überhaupt aussehen könnte; überdies würde eine solche Tat dann wohl kaum als Denunziation eingestuft werden.

 

Der Schilderung von konkreten Fällen von Denunziation werden ausführliche statistische und in Diagrammen und Tabellen dargestellte Auswertungen vorausgeschickt (Geburtsjahrgänge der Anzeiger und der Angezeigten, das Geschlecht der Anzeiger, die Art der Beziehung zum Angezeigten, der Wehrmachtsrang der Angezeigten, Delikte und Tatorte). Nach der Präsentation ausgewählter Einzelfälle analysiert die Verfasserin sehr detailliert ein Verfahren aus dem Jahr 1944, das durch die Anzeige eines 19-jährigen Soldaten gegen einen 27-jährigen Obergefreiten wegen wehrkraftzersetzender Äußerungen in einem Kaffeehaus in St. Johann in Tirol, Standort der Gebirgssanitätsschule des Heeres, in Anwesenheit zweier junger Frauen in Gang gebracht worden war; der Obergefreite wurde in der Folge vom Feldkriegsgericht in Kitzbühel zu zwei Jahren und neun Monaten Gefängnis und Rangverlust verurteilt. Während Hornung  über das weitere Schicksal des Verurteilten nichts weiter in Erfahrung bringen konnte, hat sie 59 Jahre nach dem Prozess im November 2003 mit dem Anzeiger im heimatlichen Knittelfeld persönlich ein Interview geführt und dessen Ergebnisse mit den Akten kontrastierend ausgewertet, wobei ihre Interpretation des Geschehens sich über weite Strecken psychoanalytischer Zugänge bedient. Manchmal gleiten diese ansonsten recht interessanten Ausführungen aber in Bereiche ab, wo sich der Leser fragen wird, ob hier tatsächlich noch Relevanz vorliegt, wenn die Verfasserin beispielsweise von einem zufälligen Missgeschick bei der Anreise zum Gespräch – dem Abbrechen ihres Stiefelabsatzes – berichtet und dieses dahingehend kommentiert: „Ich hatte mit meinem Stöckel meinen Macht-Phallus ‚Wissenschaftlerin‘ verloren“; zu der nach den allgemeinen Gesetzen der Höflichkeit eigentlich selbstverständlichen Hilfeleistung durch den Interviewten spekuliert sie: „Möglicherweise konnte er sich derart auch stärker und als mein männlicher Retter fühlen und die Machtverhältnisse in ein für ihn angenehmeres Verhältnis bringen“ (S. 245).

 

Sieht man über solche übertriebenen Ausritte in eine feministische Rhetorik hinweg (selbstredend liest man auch von ProtagonistInnen, AnzeigerInnen, ZeugInnen usw.), bietet das vorliegende Buch doch einen sehr differenzierten und – obwohl die Verfasserin weder Juristin noch Militärangehörige ist - kompetenten Einblick in einen spezifischen Sektor der nationalsozialistischen Militärgerichtsbarkeit, dessen Repräsentativität durch weitere Vergleichsstudien auf der Grundlage eines deutlich ausgeweiteten Quellenfundaments noch zu verifizieren wäre. Dies gilt vor allem für die generalisierende Feststellung: „Es bestand Un-Recht sowohl im materiellen Strafrecht als auch in den Strafverfahrensgesetzen“ (S. 332). Verbesserungsfähig bleibt die Aufschließung des Bandes, dessen Anhang sich, abgesehen von den drei erwähnten Kurzbiographien, auf ein Literaturverzeichnis und auf die Faksimile-Wiedergabe von fünf Aktenstücken beschränkt.

 

Kapfenberg                                                     Werner Augustinovic