Hoos, Hans-Helmut, Kehillah Kedoschah - Spurensuche.
Geschichte der jüdischen Gemeinde in Friedberg. Auf den Spuren der Friedberger
Juden von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Aufl. Lang, Frankfurt am Main
2009. 406 S. zahlr. Abb., zahlr. Tab. Besprochen von Reinhard Schartl.
Die Neuauflage des erstmals 2002
erschienenen Werks wurde erforderlich, weil die Vorauflage vergriffen war. Dies
gab dem Autor Gelegenheit, die in der Zwischenzeit publizierten
wissenschaftlichen Einzeldarstellungen und ihm zugänglich gemachten Quellen zur
Geschichte der Friedberger Juden einzuarbeiten. Wie der Autor einleitend
hervorhebt, hatte die erstmals 1241 erwähnte Friedberger Judengemeinde, die kehillah kedoschah (heilige Gemeinde)
genannt wurde, neben den Gemeinden in Worms und Frankfurt am Main besondere
Bedeutung im deutschen Reich. Die in acht Kapitel gegliederte chronologische
Darstellung befasst sich in den ersten vier Kapiteln mit der Zeit vom 13. Jahrhundert
bis zur Revolution von 1848. Hier stellt Hoos die Erkenntnisse aus der bis ins
späte 18. Jahrhundert zurückreichenden Literatur zusammen. In dieser Periode zeigte
sich immer wieder das Spannungsverhältnis zwischen Reichsburg und Reichsstadt
Friedberg in Bezug auf die Judengemeinde. Von besonderer und bis zum Ende des Alten
Reiches währender Bedeutung war eine 1275 erlassene Anordnung König Rudolfs I.
Sie wandte der Burg eine bislang der Stadt zustehende jährliche Abgabe zu, welche
die Stadt von den Juden zu erheben hatte. Von jeder anderen Abgabe sollten die
Juden zukünftig befreit sein. Zugleich wurden sie dem Schutz der Burg
unterstellt, die zudem berechtigt war, wegziehende Juden durch andere,
zahlungsfähige zu ersetzen. Die Rechte und Einkünfte verpfändete der König
alsbald teilweise an die Grafen von Hanau. Trotz des Abgabenprivilegs wurden
den Juden in der Folgezeit vom König und von der Stadt weitere Steuern
auferlegt. Im Zuge der Judenpogrome in den Jahren 1348/1349 wurde auch die
Friedberger Judengemeinde vernichtet, sie entstand jedoch kurz darauf durch
Zuzüge neu. Mit dem Argument, dass sie nach 1349 jüdischen Grundbesitz erworben
und an neuangesiedelte Juden veräußert hatte, bestritt die Stadt die
Fortgeltung des Abgabenprivilegs von 1275, um die Juden wie die Bürger zu
besteuern. Ebenso war zwischen Burg und Stadt die Rechtsprechungshoheit
streitig. Bezüglich des Gerichtsstandes bestätigte Kaiser Karl V. im Jahre
1530, dass in Reichsstädten ansässige Juden vor kein fremdes Landgericht geladen
werden dürften. 1571 vertrat die Stadt gegenüber der Burg in einem Streit um
die Gerechtigkeiten an den Juden die Auffassung, dass die Juden und die
Judengasse allein der Jurisdiktion des Rates unterfielen. Zwei mit der
Entscheidung beauftragte kaiserliche Gesandte verwiesen jedoch auf die Urkunde
Rudolfs I., wonach die Juden der Rechtsprechung des Burggrafen unterstünden.
Hoos kommt aufgrund einzelner Gerichtsfälle zu dem Ergebnis, dass das
Burggericht in Angelegenheiten der im Judenviertel belegenen Grundstücke, zudem
für Streitigkeiten zwischen Friedberger Juden einerseits und Nichtjuden sowie
auswärtigen Juden auf der Gegenseite zuständig war, während der Stadt die
Rechtsprechung über die Juden nur in Kriminalsachen zukam, von denen
Friedberger Bürger betroffen waren. Gleichfalls unklar erscheint die
Zuständigkeit der jüdischen Gemeinde für die Regelung von Rechtsstreitigkeiten
zwischen ihren Mitgliedern. Der Autor berichtet, dass sie in internen
zivilrechtlichen Auseinandersetzungen selbst zu befinden hatte, wobei fraglich
bleibt, ob sich aus den Quellen mehr als ein freiwilliges Schiedsverfahren oder
vorgeschaltetes Güteverfahren erkennen lässt. Nach einem städtischen
Ratsbeschluss von 1531 jedenfalls konnten Juden ihre Streitfälle vor das
Stadtgericht bringen, wenn sie diese nicht innerhalb ihrer Gemeinde regeln
konnten. Geleitet wurde die Gemeinde durch Vorsteher, die von unbescholtenen
Wahlmännern zu wählen waren. Als weitere Gemeindeämter finden sich die Steuerschätzer,
der Gemeindekassierer und die für das Einsammeln und Verteilen der Almosen
zuständige Almosenkassierer. Bis 1842 hatte die Gemeinde eigene, vom Vorstand
und weiteren 30 Gemeindemitgliedern bestellte Rabbiner, denen unter anderem
neben den Gemeindevorständen die Rechtsprechung innerhalb der jüdischen
Gemeinde und die Beilegung von Streitigkeiten unter den Gemeindemitgliedern
oblag. Einer von ihnen hatte das Amt des Oberrabbiners inne. Er wurde
vierteljährlich von 30 Gemeindevertretern und drei Vorstehern sowie zwei
Baumeistern der Landjudenschaft der Wetterau gewählt. Die Rabbiner lebten vom
Handel, Geldverleih und Unterricht mit einem Wirkungsbereich bis Kassel und
Weilburg. Hoos beschreibt beispielhaft das Wirken des Rabbiners Chajim ben Bezalel
(1520/1530-1588), eines Bruders des bedeutenden Rabbi Loew von Prag. Er war als
hervorragender Lehrer und Ratgeber weithin geschätzt. Bedeutend wurde seine
Kurzfassung des Talmud („Reiseschatz“, 1569). Während seiner Tätigkeit in
Friedberg seit 1569 gründete er vermutlich die dortige Rabbinerschule (Jeschiwa). 1609 setzte die Stadt den
jüdischen Baumeister Aaron von Worms fest, weil sie in seiner rechtsprechenden
Amtsausübung einen Verstoß gegen ihre städtischen Privilegien sah. Hintergrund
war ein Beschluss der Rabbinerversammlung von 1603 in Frankfurt, dass
Streitigkeiten zwischen Juden allein vom Rabbiner und dem Gemeindevorstand
geschlichtet und erst, wenn dies erfolglos blieb, die lokale Obrigkeit
angerufen werden sollte. Die Burg widersetzte sich zwar dem städtischen
Eingriff, letztlich durfte Aaron sein Amt aber nicht mehr ausüben. Auch in der
Folgezeit blieb die Frage, an wen sich Gemeindemitglieder bei
Rechtsstreitigkeiten zu wenden hatten, umstritten. Hoos bemerkt aber, dass zunehmend
Rechtsstreite zwischen Juden vor dem Friedberger Stadtgericht zu verzeichnen
sind. Bereits im Jahre 1488 hatte der Rat bestimmt, dass die Juden in einer
südlich an das Territorium der Burg angrenzenden Gasse (Judengasse) wohnen
mussten. Dort befand sich das wahrscheinlich 1260 erbaute jüdische Ritualbad (Mikwe), ein mittelalterliches Baudenkmal
mit noch heute herausragender Bedeutung. Der Erwerb von Eigentumsrechten und
Erbleiherechten an Grundstücken war den Juden ursprünglich untersagt, doch ließ
das Stadtgericht am Ende des 15. Jahrhunderts Umgehungsgeschäfte zu. In dem von
den Juden betriebenen Geldverleih kam es zu der von König Wenzel verfügten
Beschränkung, dass alle Schuldforderungen von Juden gegen Einwohner der Stadt
verboten wurden und die Juden für Kredite nicht mehr als eineinhalb Heller auf
einen Gulden nehmen durften. Im 16. Jahrhundert erlegten städtische
Ratsverordnungen der Handelstätigkeit der Juden weitere Beschränkungen auf, mit
der die Geschäfte der Bürger vor Konkurrenz geschützt werden sollten. Aus
ähnlichen Erwägungen beschloss der Rat 1530, keine weiteren Juden in Friedberg
aufzunehmen. 1664 wurde auf der Grundlage eines älteren, verloren gegangenen
Kodex’ ein Statutenbuch der jüdischen Gemeinde verfasst. Die Handhabung von
Einzelfällen, grundsätzliche Entscheidungen von Konflikten und anderen Anlässen
wurden im Zeitraum von 1536 bis 1679 in den Pinkas,
ein Protokollbuch, eintragen. Beide Quellen, von Hoos nochmals beschrieben, hat
unlängst Stefan Litt, Kehillat Friedberg II, Protokollbuch und Statuten
der jüdischen Gemeinde Friedberg, in Wetterauer Geschichtsblätter Band 51
(2003) vollständig ediert. Zu Übergriffen der Stadtbürger auf die Judengasse
kam es im Dreißigjährigen Krieg wegen Streitigkeiten um
Kontributionsforderungen der Stadt an die jüdische Gemeinde und erneut 1694
wegen eines Streits zwischen Burg und Stadt um die Territorialzugehörigkeit der
Judengasse. Zu dieser Zeit lebten in der Judengasse rund 400 Menschen in etwa
40 zumeist vierstöckigen, schmalen Häusern. Im 18. Jahrhundert und zuletzt 1762
bestätigte der Kaiser der Burg die 1275 verliehenen Rechte über die Juden. Als
1802 die Stadt Friedberg und – gegen den Widerstand der Burg – mit ihr die
Judengemeinde in die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt eingegliedert wurden,
blieb der Judengemeinde lediglich die Zuständigkeit für ihre religiösen
Angelegenheiten. Die Stadt konnte sich nur vorübergehend mit Erfolg der Politik
des zum Großherzogtum avancierten Staates widersetzen, die Juden den übrigen
Bürgern gleichzustellen, wie Hoos beispielhaft am Grunderwerb außerhalb der
Judengasse und an der Raumanmietung zeigt. Das Traditionsbewusstsein der
heiligen Gemeinde bewirkte, dass sich die Friedberger Gemeinde bis in die späte
Neuzeit nicht zu den reformierten, sondern eher zu den orthodox orientierten im
Reich zählte. Die weiteren vier Kapitel des Buches zeichnen das Bild der
Friedberger Juden seit der Revolution von 1848. Zunächst gelang es den
Friedberger Juden nicht, in der Stadt eine politische und rechtliche
Gleichstellung zu erringen. Sie waren weiterhin nicht zum Staatsdienst
zugelassen und hatten kein passives Wahlrecht. 1848 kam es wiederum zu
Krawallen wegen Wuchergeschäften. Um die Wende zum 20. Jahrhundert lebten in
der Judengasse nur noch ärmere oder zugezogene Juden zusammen mit Angehörigen
der unteren nichtjüdischen Bevölkerungsschicht, während die jüdischen
Grundeigentümer in Villen im südlichen Neubaugebiet zogen. Außerhalb der
Judengasse konnten sich jüdische Unternehmer als ernsthafte Konkurrenten für
die nichtjüdischen Geschäftsleute etablieren, wohingegen sie in Vereinen und
politischen Parteien nur geringfügig vertreten waren. In den 1920er Jahren ließ
sich der erste jüdische Rechtsanwalt in Friedberg nieder. Ausführlich schildert
Hoos den Leidensweg der Friedberger Juden im 20. Jahrhundert von ersten
antisemitischen Gewalttaten 1922 bis zu ihrer Deportation und Vernichtung 1944.
Er zeigt an vielen Beispielen die in Friedberg wie im ganzen Reich einsetzenden
und sich verstärkenden Diskriminierungsmaßnahmen wie den Widerruf von
Einbürgerungen, die Verdrängung von Juden aus dem Vereinsleben und den
weiterführenden Schulen sowie aus dem öffentlichen Dienst. So musste der aus
Friedberg stammende bekannte Rechtswissenschaftler Ernst Eduard Hirsch
am 30. März 1933 seine Lehrtätigkeit an der Frankfurter Universität beenden. Er
emigrierte in die Türkei, wo er entscheidend an der Erneuerung des türkischen
Privatrechts mitwirkte. Nach dem vorübergehenden Boykott jüdischer Läden im
März 1933 verschwanden bis 1936 die großen jüdischen Geschäfte aus Friedberg.
Bei den gewaltsamen Novemberpogromen 1938 wurde die Synagoge in Brand gesetzt
und zerstört. 43 Friedberger Juden wurden in die Konzentrationslager Dachau und
Buchenwald verbracht. Das gotische Judenbad entging der Zerstörung allein, weil
es als Bauwerk deutscher Handwerker erhaltungswürdig erschien. Diejenigen
Juden, die Friedberg nicht verlassen hatten, wurden am 17. 9. 1942 deportiert
und in die Vernichtungslager Theresienstadt und Auschwitz gebracht. Damit war
die Friedberger Gemeinde ausgelöscht. Die sensible, überwiegend auf Augenzeugenberichten
aufbauende Schilderung der letzten Jahrzehnte der Friedberger Juden, insbesondere
zahlreicher individueller Schicksale hinterlässt beim Leser eine tiefe
Beklemmung.
Bad Nauheim Reinhard
Schartl