Hartmann, Wilfried, Kirche und Kirchenrecht um 900. Die Bedeutung der spätkarolingischen Zeit für Tradition und Innovation im kirchlichen Recht (= Monumenta Germaniae Historica, Schriften 58). Hahnsche Buchhandlung, Hannover 2008. XXXVI, 376 S. Besprochen von Steffen Schlinker.
Nachdem Wilfried Hartmann schon im Jahr 2007 einen Tagungsband zum Thema „Recht und Gericht in Kirche und Welt um 900“ veröffentlich hat[1], zieht er in dem hier zu besprechenden Buch die Summe aus seiner intensiven, jahrzehntelangen Forschung zum 9. und 10. Jahrhundert. Im Zentrum der Arbeit stehen der Stand und die Entwicklung des Kirchenrechts im Jahrhundert zwischen ca. 850 und 950, in dem das Karolingerreich in kleinere Teilreiche zerfällt. In sechs großen Kapiteln wird neben einer Einleitung (S. 1 6) und dem Schluss (S. 317-320) die Thematik des Buches entwickelt. Hartmann beginnt mit einer prägnanten, auf das Wesentliche beschränkten Darstellung der politischen, kirchlichen und kulturellen Situation in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts (S. 7-59). Hervorgehoben werden die intensive legislative Tätigkeit der Bischöfe und Synoden, die Bedeutung der Bischöfe für die Verwaltung des Reichs (S. 20ff.) und das Phänomen der Eigenkirchen (S. 23ff., auch S. 123ff.).
Das zweite Kapitel ist der Verbreitung und Nutzung der alten Normen gewidmet (S. 60-108). Zu Recht weist Hartmann darauf hin, dass die kirchlichen Normen keine Randexistenz fristeten, sondern Regeln für fast alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens darstellten (S. 2). Das Kirchenrecht wurde auf den Synoden und im Sendgericht in die Praxis umgesetzt und prägte so die gesellschaftliche Wirklichkeit (S. 3f., 18f., 21f., 71). Insbesondere im Sendgericht wurde das einfache Volk mit den Normen des Kirchenrechts konfrontiert, während die Fürstenspiegel aus geistlicher Hand für die königliche Herrschaft Verhaltensregeln und Ideale entwickelten. So formulierte Hinkmar von Reims im Krönungsordo von 877 für Ludwig den Stammler zusammenfassend die königlichen Aufgaben (S. 19) und stellte dem König zunächst die Pflicht vor Augen, sich selbst gut zu beherrschen. Sodann sollte der König das in der Kirche vereinte Volk Gottes schützen und es regieren, indem er die Bösen bestrafte und die Guten unterstützte.
Nicht nur kirchenrechtliche Handschriften wurden weiterhin abgeschrieben. Hartmann kann auch feststellen, dass in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts beinahe ebenso viele Handschriften mit Texten des römischen Rechts entstanden sind wie in der ersten Jahrhunderthälfte (S. 85f.). Auch hinsichtlich der leges ist in diesem Zeitraum eine beachtliche Buchproduktion erkennbar (S. 94ff.). Eine intensive Benutzung des römischen Rechts durch Regino von Prüm ist für das Sendhandbuch nachweisbar (S. 89). Die praktische Anwendung des schriftlichen Rechts kann Hartmann für die kirchenrechtlichen Texte besonders für die Synoden im Ostfrankenreich, aber auch für kirchenrechtliche Autoren wie Agobard von Lyon, Hrabanus Maurus, Paschasius Radbertus und Hinkmar von Reims darstellen (S. 100ff.).
Den neuen Normen und ihrer Überlieferung wendet sich Hartmann im dritten Kapitel zu (S. 109-190). Schon in der Einleitung weist Hartmann darauf hin, dass das hochkarolingische Projekt der Reform von Kirche und Gesellschaft gerade auch in der spätkarolingischen Zeit mit besonderem Elan fortgesetzt wurde (S. 3f.). Die Jahre zwischen 880 und 910 seien ein „Höhepunkt in quantitativer und qualitativer Hinsicht“ für die Reformgesetzgebung auf den Konzilien gewesen (S. 4). Es wurden nicht nur Handschriften mit tradierten Normen abgeschrieben, es entstanden auch neue Rechtsnormen und systematisch geordnete Sammlungen des Kirchenrechts (S. 109ff.). Hartmann kann auf 23 Synoden zwischen 868 (Synode von Worms) und 932 (Synode von Erfurt) verweisen, die neue Kanones erließen. Neuartige Bestimmungen zum Verhältnis von Kirche und König zueinander sind insbesondere auf der Synode von Hohenaltheim (916) erarbeitet worden (S. 112, 114f.). Den Grund für die lebhafte Produktion neuer Kanones sieht Hartmann überzeugend in der schwierigen gesamtpolitischen Lage der spätkarolingischen Zeit. Insbesondere die Angriffe der Sarazenen auf Rom und die Einfälle der Ungarn und Normannen in das Frankenreich hätten endzeitliche Vorstellungen und die Sorge vor dem Gericht Gottes verstärkt und so zu Bemühungen um moralische Besserung angespornt (S. 6, 31, 244).
Als große Schöpfungen der Zeit um 900 werden das Sendhandbuch Reginos von Prüm (S. 149ff.) und die Collectio Anselmo dedicata (S. 143ff.) hervorgehoben. In den Fragenkatalogen, die der Bischof jeweils an die Priester und an die Laien der visitierten Gemeinde richten sollte, sieht Hartmann zu Recht eine eigene rechtsschöpferische Leistung Reginos (S. 155). Schon zuvor waren die umfangreichen Fälschungsprojekte der pseudoisidorischen Dekretalen und der falschen Kapitularien des Benedictus Levita abgeschlossen worden. Hartmann weist darauf hin, dass die Autorität des Papsttums im Frankenreich offenbar so erheblich war, „dass man den Märtyrerpäpsten bis dahin unbekannte Rechtssätze in den Mund legen konnte, und dass diese Rechtssätze bald auch schon auf Synoden zitiert und in der Praxis angewandt wurden.“ (S. 26, auch S. 40). Rechtstheoretisch ist dabei von Interesse, dass offenbar geschriebenes Recht das tradierte orale Recht verdrängen konnte. Das Potential der pseudoisidorischen Dekretalen haben die Päpste erkannt und zur Festigung ihrer Position geschickt zu nutzen verstanden (S. 115). Auch in Hohenaltheim (916) wurden die pseudoisidorische Dekretalen herangezogen und in den Kanones der Synode wiederholt. Immer wieder abgeschrieben wurde die Collectio Dionysio-Hadriana, aber auch neue Sammlungen wie die Collectio Dacheriana, die Kapitulariensammlung des Abtes Ansegis von Fontanelle oder das Paenitentiale Halitgars von Cambrai.
Das vierte Kapitel befasst sich mit den neuen Inhalten der kirchlichen Gesetzgebung (S. 191-242). Das Spektrum der sachlichen Neuerungen reicht vom Verhältnis zwischen Kirche und König über die Kirchenorganisation und den Gerichtsstand der Bischöfe und Kleriker bis hin zu Fragen christlicher Lebensführung und dem Eherecht. Bemerkenswert ist die Beschreibung einer fahrlässigen Tötung auf der Wormser Synode von 868 am Beispiel der Tötung beim Baumfällen (S. 222ff.). Die Texte zielen darauf ab, nicht auf den bloßen Erfolg einer Handlung abzustellen, sondern die Intension des Delinquenten zu berücksichtigen (S. 320), auch wenn es noch an einer juristischen Begrifflichkeit fehlt. Schon in hochkarolingischer Zeit scheint die Kirche darauf gedrängt zu haben, bei der Beurteilung eines Falls die Schuld als maßgebendes Kriterium heranzuziehen (S. 230f.). Vereinzelte Andeutungen in den Quellen könnten dafür sprechen, dass die Entstehung neuer Normen durch konkrete Fälle im Gericht oder Anfragen ausgelöst wurde (S. 235ff.).
Dass Vorschriften, deren Einhaltung für wichtig angesehen wurden, immer wieder erneuert und in die Synodalkanones aufgenommen wurden, dokumentiert nicht die Fruchtlosigkeit bisheriger Normdurchsetzung (S. 239f.). Hartmann sieht darin vielmehr einen „Ausdruck des Bemühens, die eigene Gesetzgebung in die kirchenrechtliche Tradition einzufügen, indem man auf bereits erlassene Vorschriften zurückgriff und wörtlich wiederholte.“ (S. 240). Insofern liegt das moderne Verständnis der schriftlich fixierten Rechtsquelle noch fern. Geltung oder jedenfalls eine Verstärkung seiner Geltung erhält auch das schriftliche Recht durch die stete Verbindung mit einer höheren Autorität in der Tradition. Hartmann kann das durch eine Anfrage Erzbischof Luitberts von Mainz beim Papst illustrieren. Die streitigen Fragen hatte kurz zuvor die Wormser Synode von 868 geregelt, an der Luitbert vermutlich in maßgeblicher Funktion teilgenommen hatte (S. 241). Offenbar hielt es Luitbert gleichwohl für angezeigt, sich an höherer Stelle zu vergewissern.
Das fünfte Kapitel untersucht die Praxis des kirchlichen Gerichts (S. 243-286). Institutionell ist als neue Erscheinung die Entwicklung des Sendgerichts zu nennen, dessen Entstehung Hartmann überzeugend in die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts legt (S. 245ff., 256ff.). Hier seien zunächst Delikte erfragt worden, für die mangels Kläger kein Gerichtsverfahren eingeleitet wurde, etwa Inzest, Verwandtenmord, Ehebruch oder Verstöße gegen das Sonntagsgebot (S. 192ff.). Berücksichtigt werden auch das Gottesurteils, die Bußverfahren und die Exkommunikation. Bemerkenswert ist der Hinweis auf Akzeptanzprobleme des neuen Rechts in der Praxis: Den Zeitgenossen ist bewusst, das neues Recht entsteht, um die Probleme der Gegenwart zu lösen (S. 6). In der Kirche ist die Vorstellung, neues Recht zu setzen, auch im frühen Mittelalter offenbar nicht verloren gegangen. Die Zeitgenossen erkennen also die Veränderung des Rechts und bezweifeln in Konfliktfällen die Geltung der neuen Regelungen, indem sie behaupten, diese seien ficta et inventa (S. 284). Insofern argumentieren alle Beteiligten, sowohl die rechtschaffenden Kleriker als auch die Rechtsunterworfenen, mit der Tradition.
Das sechste Kapitel spürt schließlich den Wirkungen in der zweiten Hälfte des 10. und im beginnenden 11. Jahrhundert nach (S. 287-316) und gewährt einen Ausblick auf das Dekret Burchards von Worms und die Collectio duodecim partium (S. 305ff.) sowie eine Vielzahl kleinerer Textsammlungen (S. 287ff.). Aber auch die ferneren Folgewirkungen der kirchenrechtlichen Produktion aus der Zeit um 900 sind beachtlich. In das Dekret Gratians sind mehr Rechtssätze aus den letzten 30 Jahren des 9. Jahrhunderts eingegangen als aus den Pontifikaten der folgenden eineinhalb Jahrhunderte (S. 5). So ist nach Gregor dem Großen Papst Nikolaus I. (858-867) der im Dekret am häufigsten zitierte Autor (S. 34).
Ausführlich und detailliert dokumentiert Hartmann zu jedem Kapitel die Herstellung und Verbreitung von kirchenrechtlichen Handschriften. Im Anhang sind die Handschriften mit rechtlichen Texten aus der Zeit von ca. 850 bis zum Ende des 10. Jahrhunderts mit Angaben zum Herstellungszeitraum und Herstellungsort zusammengestellt (S. 321-338). Wie bedeutend der Anteil der spätkarolingischen Epoche an der Entwicklung des Kirchenrechts war, lässt sich daran erkennen, dass ein großer Teil der noch vorhandenen kirchenrechtlichen Handschriften etwa in den 100 Jahren zwischen 850 und 950 entstanden sind: „Wenn man das bedenkt, kann man sogar sagen, dass in der Zeit um 900 ein beträchtlicher Teil der zur Verfügung stehenden wirtschaftlichen Ressourcen für die Herstellung von Texten zum Kirchenrecht verwandt wurden.“ (S. 3 [Zitat], auch S. 57, 62ff.). Als Zentren der Buchproduktion benennt Hartmann Reims, Laon, Corbie, Köln, Trier und Mainz. Erstaunlicherweise gehören außer Corbie die Klöster nicht dazu.
Wie schon in dem eingangs erwähnten Tagungsband betont Hartmann auch in dem hier besprochenen Buch, dass für das Kirchenrecht zwischen 850 und 950 nicht von einem dunklen Zeitalter gesprochen werden kann. In der Tat ist die Fülle der in diesem Zeitraum entstandenen kirchlichen Normen und produzierten Handschriften eindrucksvoll. Zwar dominiert das mündlich gesprochene Wort in den Verhandlungen, auf den Synoden und im Gericht. Gleichwohl stellten die an Bücher gewohnten Kleriker in großem Umfang schriftliche Aufzeichnungen von Rechtstexten her.
Schon eingangs hebt Hartmann hervor, dass den „Entwicklungen, die das Kirchenrecht im karolingischen Zeitalter erfuhr, eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die Entstehung und Entfaltung des Rechtsdenkens und der Rechtspraxis im lateinischen Europa zu[kommt].“ (S. 3). Daher plädiert auch Hartmann im Anschluss an Michael Mitterauer überzeugend dafür, dass die Grundlagen des modernen Europas nicht erst im 12. Jahrhundert, sondern bereits in der Karolingerzeit zu lokalisieren sind (S. 1). Eine Beschäftigung mit dem frühen Mittelalter ist daher in jedem Fall gewinnbringend, ebenso gewinnbringend wie das Lesen der Bücher von Wilfried Hartmann.
Würzburg/München Steffen Schlinker
[1] Wilfried Hartmann, (Hrsg.), Recht und Gericht in
Kirche und Welt um 900, (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 69), München
2007.