Handbuch des Staatsrechts der
Bundesrepublik Deutschland. Band 5 Rechtsquellen, Organisation, Finanzen, hg.
v. Isensee, Josef/Kirchhof, Paul, 3. Aufl. C. F. Müller, Heidelberg 2007.
XLIII, 1662 S. Besprochen von Andreas Kley.
Handbuch des Staatsrechts der
Bundesrepublik Deutschland, Band 6 Der Bundesstaat, hg. v. Isensee,
Josef/Kirchhof, Paul, 3. Aufl. C. F. Müller, Heidelberg 2008. XLII, 1392 S.
Besprochen von Andreas Kley.
Der fünfte Band beschäftigt sich mit den
Mitteln des staatlichen Handelns. Das Thema eröffnet ein beeindruckender
Grundlagenartikel Paul Kirchhofs (S. 3-134). Der Mitherausgeber und Autor sieht
die Idee des Rechtsstaats als eines „Schleusenbegriffs“ im Schutz der Freiheit
des einzelnen. Diese gewährleistet er durch „rechtliche Gewährleistungen und
Rechtsinstitute“ und durch die Sicherung des individuellen Handelns mittels
staatlicher Einrichtungen (S. 4). Er wehrt auch Störungen ab, sorgt für die
Durchsetzung des Gemeinwohls und „plant und lenkt Entwicklungen des
öffentlichen Lebens“ (S. 4). Kirchhof deutet Gefährdungen schon ganz am Anfang
an, indem er den Kausalzusammenhang herstellt: „Je mehr das Recht (…) an
gestaltender Kraft verliert (…), desto mehr muss der Staat die Kraft zu Frieden
und Recht zurückgewinnen“. Der Autor wird freilich bald konkreter, indem er die
Gefahren direkt nennt: Die Normenflut und die Normenänderungsflut „machen das
Gesetzesrecht unübersichtlich und widersprüchlich, verweigern dem Bürger
rechtliche Planungssicherheit, nehmen dem Recht Vertrautheit und damit
Vertrauen“ (S. 5). Der Wille des Gesetzgebers und gesellschaftlicher Gruppen,
jeden Einzelfall im Gesetz zu regeln, machen die Gesetzgebung und ihre
Anwendung anfällig für Willkür und verletzen in der Sache das Verbot des
Einzelfallgesetzes gemäss Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG. Als Abhilfe rät der Autor,
dass sich das Gesetz auf das „Wesentliche zu beschränken habe und dadurch
Gestaltungsmacht zurückzugewinnen vermöge (S. 7).
Damit stimmt der Autor und Mitherausgeber
einen Grundtenor an, der sich durch seinen Beitrag und die Beiträge mancher
Mitautoren hindurchzieht. So sieht etwa Fritz Ossenbühl in der Gegenwart das
„Gesetz als ein Instrument der Politik“ an (S. 145). Auf diese Weise könnten
„die politischen Parteien ihre Vorstellungen in einem geordneten Verfahren in
allgemeinverbindliches Recht umsetzen“ (S. 146). Das Gesetz sei daher nicht
mehr Ausdruck eines Basiskonsenses, sondern vielmehr ein Planungs- und
Lenkungsinstrument. Dabei diagnostiziert Ossenbühl die interessante Folge, dass
Steuerungseffekte auch dann eintreten könnten, obwohl die Gesetze gar „keine
praktische Wirksamkeit“ entfalteten (S. 146). Das geschieht einerseits durch
Gesetze als Druckmittel: Gesetze werden angekündigt für den Fall, dass die
Industrie oder Dienstleister, bestimmte Ziele selbst nicht erreichen.
Andererseits bedient sich der Staat vielfach der symbolischen Gesetzgebung.
Deren Vollzug ist aus unterschiedlichen Gründen von vorneherein nicht möglich. Freilich
geht es auch nicht darum, etwas real zu ändern, vielmehr bringt der Gesetzgeber
damit zum Ausdruck, dass er bestimmte Tatsachen oder vollendete Tatbestände der
Vergangenheit moralisch verwirft. Als Beispiel symbolischer Gesetzgebung nennt
der Autor Gesetze, welche vollzogene und nicht mehr rückgängig
zu machende Gerichtsurteile eines Unrechtsrechtsregimes (vor allem Todesurteile)
nachträglich aufheben.
Der Rechtsstaat findet freilich nicht nur
seine Ausprägung in der (teilweise fragwürdig gewordenen) Gesetzgebung; er
steht auch unter der Obhut der Gerichtsbarkeit. Christoph Degenhart (S. 725ff.)
macht in seinem Beitrag über die Gerichtsorganisation darauf aufmerksam, dass
manche richterrechtlichen Ableitungen aus dem Rechtsstaatsprinzip, etwa das Prozessgrundrecht
auf ein faires Verfahren, bestehen, die grundrechtliche Qualität besitzen. Der
Gefährdung des Rechtsstaatsprinzips durch eine übermäßige Aktivität des
Gesetzgebers stehen gegenläufige Mechanismen gegenüber: Diese stärken die
Verfahrensrechte des einzelnen, der sich im Gesetzesdickicht befindet und sich
gegen den Regulierungseifer wehren will. In allen europäischen Staaten hat das
Verfahrensrecht und das formale Denken eine starke Entwicklung durchgemacht.
Dass hier die Europäische Menschenrechtskonvention mit ihren starken
Verfahrensgrundrechten oft herangezogen wird, ist eher ein Symptom des
Phänomens als dessen Ursache. Die in Gerichtsverfahren gelieferte „Rationalität
und Nachvollziehbarkeit der Entscheidungsfindung“ ist nicht nur ein „maßgeblicher
Aspekt rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien“ (wie Degenhart zu bescheiden
formuliert, S. 806). Vielmehr vermag diese Rationalität ganz generell das
Ungenügen gesetzgeberischer Aktivität auszugleichen. Deutschland und seine
europäischen Nachbarstaaten befinden sich auf einem Weg in die Formalisierung,
die das Feld des Staats- und Verwaltungsrechts überschritten hat. „Prozesse“
und ihre Ablaufregeln bestimmten heute die gesamte Gesellschaft und vor allem
das Wirtschaftsleben. Freilich drohen auch hier Gefahren: Das Inhaltliche wird
zugunsten des Formellen aufgegeben; womit man die eigentlichen Staatsaufgaben
aus den Augen verliert. Im Extremfall bilden Staat und Gesellschaft ein
Getriebe ohne Ziel und Zweck.
Die Herrschaft des Formalen zeigt sich auch
darin, dass das Thema Staatsverschuldung eigens zu behandeln ist. Das
Finanzwesen ist nicht Selbstzweck, sondern es dient dazu, dem Staat die Mittel
zu seiner Aufgabenerfüllung zu verschaffen. Mittlerweile hat sich das
Finanzwesen freilich als eigenes Thema verselbständigt und sich teilweise von
seiner dienenden Funktion verabschiedet. Hermann Pünder (S. 1324ff.) betrachtet
die Staatsverschuldung zu Recht auch als Generationenproblem. Gerade Großinvestitionen,
etwa der Bau von Infrastrukturanlagen wie Eisenbahnen, Brücken oder Tunnels,
dürfen nicht nur die gegenwärtige Generation treffen, sie sind vielmehr über
die Staatsverschuldung auf die künftigen Nutzniesser der Anlagen zu verteilen.
Zu dieser überzeugenden Begründung für die Verschuldung gesellte sich die
konjunkturpolitisch motivierte Staatsverschuldung. Diese sah ein staatliches
„deficit spending“ (S. 1329) vor, wenn sich die Volkswirtschaft in einer
zyklischen Depression befindet, um dadurch deren Auswirkungen zu mildern. In
den nachfolgenden Phasen der Hochkonjunktur soll der Staat die Ausgaben kürzen
und damit seine erbrachte Vorleistung wieder einkassieren. Pünder bemerkt, dass
die Defizite in Zeiten der Prosperität kaum zurückgenommen werden; vielmehr
sperren sich die betroffenen Interessegruppen gegen die Haushaltskonsolidierung
(S. 1331). Auf diese Weise, und mitunter durch weitere Mechanismen, entsteht
das Problem der Staatsverschuldung, das sich zu einem Verfassungsproblem
ausbildet. Dabei sind die verfassungsrechtlichen Rahmenvorgaben, die Pünder
darstellt (S. 1333ff.) beeindruckend; sie können freilich nicht genügen, wie
die nach der Publikation des Bandes erfolgende Diskussion zeigt.
Der sechste Band über den Bundesstaat
eröffnet Mitherausgeber Josef Isensee mit einer Untersuchung über „Idee und
Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz“ (S. 3ff.). Der in einer makellosen,
leicht lesbaren und einprägsamen Sprache verfasste Beitrag analysiert die
Bundesstaatlichkeit grundlegend. Von großer Bedeutung ist es, dass Isensee dem
Bundesstaat auch ideengeschichtlich auf den Grund geht. Ob freilich der
Bundesstaat eine „Staatsform deutscher Herkunft und deutscher Prägung“ ist (S.
4), sei bezweifelt; der Autor ist freilich präzise, er schreibt in diesem
Zusammenhang vom „Bundesstaat des Grundgesetzes“. Unter diesen Einschränkungen
trifft die Aussage freilich zu, sie verliert aber als Tautologie an
Aussagekraft. Immerhin ist dem Autor Recht zu geben, wenn er den Bundesstaat
des Grundgesetzes als besondere Ausprägung betrachtet, die es in dieser Form
nirgendwo gibt. Freilich darf man nie vergessen, dass in der
Verfassungsgeschichte der Neuzeit die Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrer
Verfassung von 1787 (in Kraft 1789) das Mutterland des Bundesstaates
darstellen. Von diesem Vorbild leiten sich sämtliche Bundesstaaten der Welt ab,
insbesondere auch Deutschland. Zutreffend sind die Überlegungen des Autors zum
Republikbegriff (S. 162f.). Republik bedeutet heute Nicht-Monarchie, und in
Deutschland ist diese Tatsache 1918 vollzogen und in der Weimarer Reichsverfassung
umgesetzt worden. Der Republikbegriff verweis auf die „res publica“ und damit
auf das Gemeinwohl: „Im Föderalismus rückt die res publica in ihren
kleinen Einheiten näher an den Bürger heran. Die Sachnähe schafft Anreize, sich
für eine konkrete Sache des Gemeinwesens einzusetzen“ (S. 163, vgl. auch S. 198
mit dem Zitat von Waitz). Hier trifft Isensee in der Tat den Kern der Vorzüge einer
bundesstaatlichen Ordnung.
Das Bundesstaatsprinzip unterliegt freilich
wesentlichen Modifikationen, wenn man die letzten zwei Jahrzehnte in Betracht
zieht. Eine grundlegend neue Orientierung ergab sich durch das Anwachsen der
Aufgaben der Europäischen Union, wie der Beitrag Adelheid Puttlers deutlich
macht (S. 1049ff.). Die Autorin hebt dabei hervor, dass trotz der
„Landes-Blindheit“ der Gründungsverträge, im Recht der EU verschiedene „länderschützende“
Mechanismen bestehen. Dazu gehören die Mitwirkung der Länder im Ausschuss der
Regionen oder die EU-Aussenvertretungen der Länder in Brüssel.
Die beiden Bände sind, wie jene der
Vorauflagen und der bisher erschienen Bände 1-4, äußerlich attraktiv und
übersichtlich gestaltet. Verzeichnisse und Register erleichtern den Zugang und
die Konkordanzreigster erlauben die Arbeit mit den Vorauflagen. Den beiden
Herausgebern ist mit den Bänden 5 und 6 wiederum ein Wurf gelungen. Es handelt
sich um ein Referenz- und Nachschlagewerk, das nicht mehr wegzudenken ist.
Zürich Andreas
Kley