Handbuch
der Grundrechte in Deutschland und Europa, hg. v. Merten, Detlef/Papier,
Hans-Jürgen. Bd. 6,1 Europäische Grundrechte I. C. F. Müller, Heidelberg
2010. XXXVI, 1444 S. Besprochen von Tilman Repgen.
60
Jahre nach der Unterzeichnung der „Konvention zum Schutze der Menschenrechte
und Grundfreiheiten“ durch die damaligen Mitglieder des Europarates am 4.
November 1950 ist der erste Teilband des Handbuchs der Grundrechte, der sich
speziell mit den „Europäischen Grundrechten“ beschäftigt, erschienen. Er geht
dem Halbband 2 [zu diesem vgl. meine Rezension in dieser Zeitschrift, Bd. 127
(2010), S. ▌▌] systematisch voraus, auch wenn er ihm zeitlich
nachfolgt, da die so wichtige Europäische Grundrechtecharta erst mit dem
Vertrag von Lissabon 2009 positivrechtliche Bedeutung erlangt hat. Es war
sinnvoll, diesen Zeitpunkt abzuwarten und erst dann den Band zu
veröffentlichen. Die Dynamik der Europäisierung dürfte wohl aus der Perspektive
späterer Generationen der für die Rechtsentwicklung bedeutsamste Vorgang in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sein. So ist es verdienstvoll, dass das
Handbuch der Grundrechte die europäische Entwicklung so fundiert aufnimmt.
Gegenstand
des hier anzuzeigenden Bandes des Handbuchs der Grundrechte sind die Grund- und
Menschenrechte vor allem auf der Grundlage der Europäischen
Menschenrechtskonvention und des Unionsrechts, insbesondere auch der
Grundrechtecharta. Stets stellt sich auch die Frage nach der
Grundrechtsdurchsetzung, die in zwei Abschnitten behandelt wird (§§ 150, 165).
Vorangestellt ist ein Grundsatzartikel über die Grundrechte als europäische
Leitvorstellung (Axel Frhr. von Campenhausen, § 136, S. 3-43), der hier
nähere Betrachtung verdient. Sein Zugriff ist historisch und deutet die
Grundrechte im Sinne einer „Großerzählung“ als ein Produkt von Judentum,
Christentum und griechisch-römischer Antike. Reizvoll ist es, sich auf den
Europabegriff einzulassen (Rn. 3ff.), den von Campenhausen bei Max Weber entlehnt, charakterisiert durch „Wissenschaft,
Geschichtsschreibung, eine Staatslehre mit rationalen Begriffen, die
Universität …, den Beamten und den Begriff des transpersonalen Amtes … mit
festem Amtseinkommen, den Staat im Sinne einer politischen Anstalt mit rational
gesetzter Verfassung, Nationen“ (Rn. 5). Auch die Anerkennung der
Menschenrechte gehöre, so von Campenhausen,
heute dazu (Rn. 6). Zentrale Bedeutung für die Entwicklung Europas hatte
sodann die Trennung von Staat und Kirche. Die rechtlich verfasste Kirche hat
sich im Mittelalter der Verweltlichung entzogen. Die Bedeutung des Mönchtums
müsste in diesem Zusammenhang wohl stärker akzentuiert werden. Es ist besonders
verdienstvoll, dass von Campenhausen in diese – auch sonst nicht ganz fremde –
Großerzählung prominent die spezifische Beziehung von Kirche und Staat, den
Dualismus der „zwei Reiche“ integriert (Rn. 12-27). Axel von Campenhausen betont weiter die Wichtigkeit gerade
des kanonischen Rechts für die Entwicklung eines rationalen Rechtssystems (Rn.
38-65). Der Autor weicht auch nicht unbequemen Themen wie der Sklaverei aus
(Rn. 53-58). Hier findet die spanische Spätscholastik und mit ihr eine
„Auffassung vom Menschen, die zweihundert Jahre später in die Formulierung der
unveräußerlichen Menschenrechte“ einfloss, Erwähnung (Rn. 56). Diese Epoche
hatte auch jenseits des Völkerrechts starke Wirkungen, deren Einzelheiten
freilich noch längst nicht bekannt sind. Ein längerer Abschnitt betrifft bei
von Campenhausen dann die
konfessionellen Streitigkeiten im Gefolge der Reformation (Rn. 66-89). Vor
allem die Neutralität des Staates in Religionsfragen ist ein wichtiges Erbe
dieser Zeit. Selbstverständlich kann man die Geschichte der Grundrechte nicht
ohne die ältere Staatsrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts schreiben (Rn.
90-103). Im letzten Unterkapitel kontrastiert von Campenhausen die europäische Entwicklung mit der
Situation in der Welt des Islam: „Menschenrechte nach westlichem Verständnis,
insbesondere Religionsfreiheit und Trennung von Staat und Kirche, kennt der
Islam nicht“ (Rn. 105). Daran habe, so von Campenhausen, auch die Allgemeine Islamische Menschenrechtserklärung von 1981
nichts geändert (Rn. 109). „Es ist eine offene Frage, ob Grund- und
Menschenrechte und Demokratie in einer Welt ohne Christentum auf Dauer bestehen
könnten“ (Rn. 112).
Rudolf
Bernhardt beschäftigt sich mit „Entwicklung und gegenwärtigem Stand“
der Europäischen Menschenrechtskonvention (§ 137, S. 45-75). Der Beitrag
enthält eine Fülle von historischen Informationen zu diesem seit dem 3.
September 1953 in Kraft befindlichen Normtext, den Bernhardt als eine Art „Europäische
Grundrechtsverfassung“ auffasst (Rn. 104). Rainer J. Schweizer schildert in § 138 die allgemeinen
Grundsätze der EMRK (§ 138, S. 77-123). In § 139 geht es um „Menschenwürde,
Freiheit[en] der Person und Freizügigkeit“ (Jürgen Böhmer, S. 125-170). Die Formulierung der
Überschrift ist etwas irreführend. Nach einleitenden Bemerkungen zum Begriff
der Menschenwürde in den Normtexten (Rn. 4-42) geht es um „Freiheiten“,
insbesondere die Fortbewegungsfreiheit (vgl. Rn. 2, 43ff.). Bröhmer begnügt
sich leider mit einer eher deskriptiven Erörterung von „Menschenwürde“ in den
verschiedensten europäischen Normtexten und Gerichtsurteilen. Eine Ausdeutung
und Inhaltsbestimmung von „Menschenwürde“ wie auch von „Freiheit“ und „Person“
sucht man hier vergebens. Freiheit ist hier „persönliche Fortbewegungsfreiheit“
(Rn. 52). Warum aber diese besteht und warum sich Freiheit darin erschöpfen
könnte, wird nicht thematisiert. – Thema von § 140 ist der „Schutz des Eigentums“
(Rudolf Dolzer, S. 171-189). – Stefan Mückl schreibt über „Ehe
und Familie“ (§ 141, S. 191-216). Ein kurzer Absatz deutet auf
„geistesgeschichtliche Tiefenschichten“ hin (Rn. 10). Angesichts der
Volatilität jedenfalls der soziologischen Erscheinungsform von „Familie“ wäre
es sicher hilfreich gewesen, wenn der Begriff der Familie und damit der
Schutzbereich weiter historisch ausgelotet worden wären, aber in den Rn. 24ff.
findet man einige Präzisierungen wenigstens zur augenblicklichen Auslegung. – Hermann-Josef
Blanke behandelt „Kommunikative
und politische Rechte“ (§ 142, S. 217-253), darunter insbesondere auch die
Religionsfreiheit, die ja in den letzten Jahren immer wieder als Schutzgut
Gegenstand politisch beachteter, rechtlicher Auseinandersetzungen war. –
„Kulturelle Rechte und Minderheitenschutz“ behandelt Rüdiger Wolfrum (§
143, S. 255-277). – Von diesem Thema ist es nicht weit zu
„Diskriminierungsverboten und Minderheitenschutz“ (Rudolf Bernhardt, § 144, S. 279-297). – Julia
Iliopoulos-Strangas bearbeitet
die sozialen Grundrechte (§ 145, S. 299-348). Hier findet der Leser auch einen
Überblick zur Geschichte dieser Grundrechte der zweiten Generation (Rn. 20-34).
– Ausführlich und damit in Relation zurr praktischen Bedeutung werden die
Verfahrensrechte behandelt (Jörg Gundel, § 146, S. 349-461). Derselbe Autor schildert auch die
Beschränkungsmöglichkeiten (§ 147, S. 463-507). – Thomas Giegerich befasst sich in §§ 148-149 (S. 509-592)
mit sonstigen Menschenrechtsübereinkommen des Europarats und dem Schutz der
Menschenrechte in der OSZE, Eckart Klein mit der Grundrechtsdurchsetzung (§ 150, S. 593-660).
Der
Zehnte Teil des Handbuchs betrifft dann die Grundrechte in der Europäischen
Union (§§ 151 ff., S. 663ff.). Hier geht es einerseits um die Grundfreiheiten
des Binnenmarktes (§§ 152-156), andererseits um die Grundrechtecharta (§§
159-164). Seit dem 1. Dezember 2009 ist die Grundrechtecharta durch die
Verweisung in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV in der Union geltendes Recht. Damit hat
die Europäische Union auf das Scheitern des Verfassungsvertrags reagiert und
diesen wichtigen Teil der Verfassung seinem Inhalt nach „gerettet“.
Alle
Abschnitte des Bandes werden wie auch in den anderen Handbuch-Bänden mit
nützlichen Bibliographien abgeschlossen. In diesem Band findet der Leser noch
einen praktischen Anhang mit den Texten der EMRK nebst einiger Zusatzprotokolle
sowie der Europäischen Grundrechtecharta, des Vertrags von Lissabon sowie
schließlich des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).
Es
ist wohl zu früh, die Bedeutung der Europäisierung des Rechts in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Entwicklung der Grundrechte zu bewerten.
Anders als im Europarat spielten die Grundrechte in der Union zunächst nur eine
eigenständige Rolle, sofern sie zugleich in den Grundfreiheiten Ausdruck
fanden. Inwiefern die Grundrechtecharta gerade im Bereich der Grundrechte der
zweiten Generation zu einem Motor der Rechtsentwicklung wird, bleibt
abzuwarten.
Hamburg Tilman
Repgen