Hahn, Eva/Hahn, Hanns Henning, Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Schöningh, Paderborn 2010. 839 S. 29 Abb., 32 Tab. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Die in Prag geborene, seit 1968 in der Bundesrepublik Deutschland lebende, zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Collegium Carolinum in München tätige, bis 1993 unter dem Namen Eva Schmidt-Hartmann publizierende, dann als unabhängige Historikerin in Oldenburg wirkende Verfasserin und ihr 1947 in Zwickau geborener, bei Theodor Schieder in Köln 1976 promovierter, 1986 habilitierter, seit 1992 in Oldenburg als Professor für moderne osteuropäische Geschichte lehrender Ehemann befassen sich seit vier Jahrzehnten mit der Geschichte der deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Beziehungen sowie mit dem Erinnern an die Vertreibung in Deutschland, Polen und dem heutigen Tschechien. Ihr Interesse an ihrem Thema entspringt hauptsächlich der Überlegung, dass derjenige, der verzerrte Bilder der Vertreibung im Kopf hat, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs nicht verstehen kann, und wer sie nicht versteht, sich in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht orientieren kann. Dementsprechend vertreten sie zutreffend die Überzeugung, dass es der Traditionen der deutschen Geschichtswissenschaft nicht angemessen ist, die Schicksale der Vertriebenen mit einem Schleier nebulöser Legenden zu überdecken, worin sie sich nicht zuletzt durch das große Interesse Oldenburger Studierender an der Vorlesung über die Vertreibung im Sommersemester 2005 bestens bestätigt sehen.

 

Gegliedert ist das gewichtige, auf seiner Vorderseite mit einer Gedenkbriefmarke der deutschen Bundespost an zwanzig Jahre Vertreibung im Jahre 1965 auf einem Ausschnitt einer Mitteleuropakarte des Jahres 1943 geschmückte, die Anmerkungen gesammelt am Ende anfügende Werk in vier Teile. Teil 1 behandelt in einer Galerie der Erinnerungsbilder die Vertreibung nach 60 Jahren, Teil 2 verdrängte Erinnerungen. Teil 3 befasst sich mit vielen ausländischen Berichten und die Erinnerung prägenden Gerüchten aus der Gründerzeit des Erinnerns, während Teil 4 die Vielfalt des Erinnerns bis zu Erika Steinbach anschaulich macht.

 

Ausgangpunkt der Untersuchung ist die Feststellung, dass die gängigen Aussagen darüber, wie viele Deutsche, wann und wo von wem vertrieben worden seien, in erstaunlich hohem Maße voneinander abweichen. Zur Klärung zogen die Verfasser Texte unterschiedlichster Art (Zeitzeugenberichte, historische Studien, einschlägige Quelleneditionen, öffentliche Reden, private „Äusserungen“ von Politikern, Publizistik, Schulbücher, literarische und mediale Darstellungen) heran, wodurch sie offenkundige Irrtümer und Fehlinterpretationen korrigieren konnten. Gleichwohl müssen sie am Ende ihrer umfangreichen Bemühungen feststellen, dass die Geschichte des Erinnerns an die Vertreibung einen wenig erfreulichen Eindruck bietet, weil seine Gründungsväter Zahlenlabyrinthe hinterlassen haben, in denen die Öffentlichkeit und selbst Historiker nach wie vor herumirren, obwohl die Autoren der Nachkriegszeit auch Informationen hinterlassen haben, die zu erforschen sich lohnt, wenn etwas daran liegt, die Lebenserfahrungen der zwischen 1939 und 1949 heimatlos gewordenen (etwa elf Millionen) Deutschen kennenzulernen.

 

Innsbruck                                                                               Gerhard Köbler