Gudmundsson, Óskar, Snorri Sturluson - Homer des Nordens. Eine Biographie. Aus dem Isländischen übersetzt v. Jucknies, Regina. Mit einem Vorwort v. Simek, Rudolf. Böhlau, Köln 2011. 447 S. Besprochen von Martin Moll.

 

Die bis 1945 beliebte Schwärmerei für alles Germanisch-Nordische liegt nun so weit zurück, dass außerhalb Islands heute nur mehr Wenige Snorri Sturluson (1178 oder 1179-1241) als den berühmtesten und produktivsten Schöpfer der mittelalterlichen Isländer-Sagas identifizieren können. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass der in Reykjavik tätige Historiker Óskar Gudmundsson eine ins Deutsche übersetzte Biographie des Skalden Snorri vorlegt, die ausweislich ihres wissenschaftlichen Apparates auf einer breiten, meist in isländischer Sprache verfassten Forschungsliteratur basiert.

 

Leider stellt dieses wohl für die mit der Thematik besser vertrauten Landsleute des Verfassers geschriebene Buch für deutschsprachige Leser eine überaus trockene, schwer verständliche Kost dar, die durch das Fehlen von Abbildungen und aussagekräftigen Landkarten noch unverdaulicher wird. Dies liegt nicht an der Übersetzerin, die sich um eine lebendige, gegenwartsnahe Ausdrucksweise bemüht hat, wenngleich nicht einsichtig ist, warum sie die Orkney-Inseln mit dem völlig ungebräuchlichen „die Orkaden“ übersetzt. Die Kritik richtet sich an den Verfasser, der keine Biographie im eigentlichen Wortsinn vorlegt, sondern eine im Stil mittelalterlicher Annalen gehaltene, jahresweise Schilderung der Lebensstationen Snorris. Konsequenterweise setzt das Buch ein, als der dreijährige Snorri zu Zieheltern gegeben wurde, und endet ebenso abrupt mit dessen Ermordung im September 1241. Lediglich das Vorwort Rudolf Simeks geht kurz auf die Bedeutung des Literaten Snorri ein, der Haupttext beinhaltet weder eine einleitende Darlegung von Fragestellung, Methoden und Quellen noch eine abschließende Würdigung.

 

Auf rund 350 Seiten Text folgt der Leser buchstäblich jeder Bewegung Snorris, soweit diese in den mittelalterlichen Sagas Erwähnung finden. Sporadische quellenkritische Bemerkungen vermögen nichts daran zu ändern, dass diese zwischen Fakten und Fiktion oszillierenden, literarischen Texte weitgehend unreflektiert verwendet werden, was insbesondere bei den zahlreichen wörtlichen Wiedergaben angeblicher oder wirklicher Reden auffällt. Stilistisch und konzeptionell ähnelt dieses Buch weniger einer Biographie als einer Saga, was bei diesem Thema zwar passend erscheinen mag, dem Leser jedoch eine Gesamteinschätzung des Protagonisten unmöglich macht. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den Umstand, dass nicht der Literat, sondern der Politiker Snorri, der zeitweilig einer der reichsten und mächtigsten Männer Islands, ja deren primus inter pares war, im Zentrum steht. So erfährt man wenig über den Dichter und viel, ja zu viel über den Machtmenschen sowie über die Personen, die seinen Lebensweg kreuzten. Deren Namen, Verwandtschaftsverhältnisse (um nicht von regelrechten Genealogien zu sprechen), Besitztümer, Reisen und sonstige Handlungen werden mit allen, häufig überflüssigen Details ausgebreitet, so dass man schon nach wenigen Seiten den Überblick verliert, woran die Eigenheiten des isländischen Namenssystems erheblichen Anteil haben. Bei der Lektüre fühlt man sich an den Kalauer erinnert, wie es einem beim Lesen des Telefonbuchs ergeht: Viele Namen, wenig Handlung.

 

Man darf bezweifeln, ob der im Buch gesetzte Schwerpunkt auf den Politiker Snorri dessen welthistorischer Bedeutung, die gewiss nicht darauf beruhte, gerecht wird. Tiefere Einblicke in das politische und soziale System Islands (sekundär auch Norwegens) in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts werden dadurch blockiert, dass Politik als eine endlose Abfolge von Kriegszügen und Totschlägen, von Bündnissen und Verrat präsentiert wird – ganz dem Klischee entsprechend. Immerhin erfährt man die kaum bekannte Tatsache, dass Snorri dem Schwertgeklirr abhold und stets um Ausgleich bemüht war, wenngleich er „aus eigenem Ehrgeiz seine Karriere verfolgte“ und „vergleichsweise früh zu erheblichem Reichtum und großer Macht“ gelangte (S. 268). Seiner umfassenden Bildung und seinem literarischen Talent standen sein ungeschicktes Agieren in der Politik sowie „missglückte“ private Angelegenheiten gegenüber (S. 318).

 

Es ist zu begrüßen, dass Snorri nicht als weltabgewandter Stubengelehrter vorgestellt wird, sondern als Machtmensch, der (auch) dichtete. Beide Bereiche stehen jedoch weitgehend unverbunden nebeneinander, denn die gewählte annalistische Darstellungsweise erlaubt nur selten Analyse und Interpretation. Gleiches gilt für die vielfältigen Informationen über die mittelalterliche isländische Rechtsgeschichte, aus denen sich der Leser selbst ein Bild machen muss, wenn er nicht vor der Frage kapituliert, wie dieses chaotisch-komplizierte, stets gewaltnahe Rechtssystem überhaupt funktionieren konnte. Schade um eine vergebene Chance, ist doch zu befürchten, dass auf absehbare Zeit kein deutschsprachiger Verlag eine weitere Biographie Snorris auf den Markt bringen wird.

 

Graz                                                                                                               Martin Moll