Gräfe, Ulrike, Leo Rosenberg. Leben und Wirken (1879-1963). Duncker & Humblot, Berlin 2011. 402 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Ziel des Werks Ulrike Gräfes ist es, die Erinnerung an Leo Rosenberg „wachzuhalten“ (S. 17), den wohl bedeutendsten Zivilprozessrechtslehrer und Zivilprozessdogmatiker des 20. Jahrhunderts in der Nachfolge der drei bedeutenden Leipziger Zivilprozessrechtler Adolf Wach, Friedrich Stein und Richard Schmidt. Das in zwei Teile gegliederte Werk beginnt mit dem „Leben Leo Rosenbergs“ (S. 19-125), gefolgt vom zweiten Hauptteil: „Das Werk von Leo Rosenberg“ (S. 126-297). Rosenberg (geb. 1879) entstammte einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Fraustadt (Regierungsbezirk Posen) und studierte nach dem Abitur am dortigen Gymnasium Rechtswissenschaften von 1896-1899. Nach der Promotion 1899 und der Habilitation 1906 (in Göttingen) wurde er 1912 zum außerordentlichen Prof. der Universität Gießen berufen (dort Ernennung zum Ordinarius 1916). 1920 begründete er mit drei Kollegen die Vereinigung Deutscher Zivilprozessrechtslehrer, die sich u. a. mit rechtspolitischen Fragen aus Anlass der unter Emminger geschaffenen Zivilprozessnovelle von 1924 befasste. 1932 wechselte Rosenberg an die Universität Leipzig als Nachfolger Richard Schmidts. Bereits im Sommer 1934 wurde er aufgrund seiner jüdischen Abstammung (nicht aus Ersparnisgründen) nach § 6 des Berufsbeamtengesetzes zwangspensioniert. Da er in einer sog. privilegierten jüdischen Mischehe lebte, konnte er die nationalsozialistische Judenverfolgung – seit Ende 1938 zurückgezogen im Allgäu lebend – überleben. Da ihm eine Rückkehr nach Leipzig von der dortigen Juristenfakultät verwehrt wurde (S. 90ff.), übernahm er im April 1946 die kommissarische Verwaltung des Lehrstuhls Heinrich Langes. Erst nach langjährigen Widerständen des bayerischen Finanzministeriums wurde Rosenberg zum ordentlichen Professor ernannt, jedoch aus Altersgründen bereits mit Ablauf des Wintersemesters 1951/52 emeritiert. Er konnte aber seine Lehrtätigkeit noch bis 1956 fortsetzen. Rosenberg verstarb 84jährig am 18.12.1963 in München.

 

Im zweiten Teil ihres Werkes geht Gräfe zunächst auf Rosenberg und die „Lehre von der Beweislast“ (S. 129-177) ein. Nach einem Überblick über die Beweislasttheorien des 19. Jahrhunderts, die Praxis des Reichsgerichts, Rosenbergs Monographie: „Die Beweislast nach der Civilprozessordnung und dem Bürgerlichen Gesetzbuche“ (1. Aufl. 1900) in den Grundzügen und über die heutige Praxis und Kommentarliteratur befasst sich Gräfe ausführlich mit der Monographie von 1900 (S. 146-177). In der 2. Auflage der „Beweislast“ (1923) präzisierte Rosenberg die 1900 entwickelten Lehren grundlegend unter Einbeziehung der Ergebnisse seines AcP-Aufsatzes von 1903 über das sog. qualifizierte Geständnis (S. 163ff., 174f.). Die von Rosenberg entwickelte Grundregel der Beweislastverteilung und die Normentheorie (Satzbaulehre) haben trotz einzelner Korrekturen ihre Bedeutung bis heute nicht verloren.

 

Rosenbergs zweite Monographie, deren erster Teil die Habilitationsschrift bildete, befasst sich auf über 1000 Seiten mit der „Stellvertretung im Prozess. Auf der Grundlage und unter eingehender, vergleichender Darstellung der Stellvertretungslehre des bürgerlichen Rechts nebst einer Geschichte der prozessualischen Stellvertretung“ (Berlin 1908) mit den allgemeinen Lehren der Stellvertretung, der historischen Entwicklung der Prozessvertretung sowie der rechtsdogmatischen Begründung der Stellvertretung im Prozess. Rosenbergs Hauptwerk stellt das „Lehrbuch des Deutschen Zivilprozessrechts“ dar (1. Aufl. 1927, 3. Aufl. 1931 mit Nachtrag von 1934; 4.-9. Aufl. 1949-1961). Das Werk ist gekennzeichnet „durch klar gestraffte Systematik, scharf herausgearbeitete Grundgedanken und knappe Begriffsbestimmungen“ (S. 197) und berücksichtigte umfassend die Gerichtspraxis. Im Einzelnen geht Gräfe näher ein auf Rosenbergs Lehre vom Streitgegenstand, von den Prozesshandlungen und der materiellen Rechtskraft. Das Werk wurde zunächst fortgeführt von Karl-Heinz Schwab und seit der 15. Auflage 1993 von Peter Gottwald, wobei 1987 in einem zweiten Band das Zwangsvollstreckungsrecht von Hans-Friedhelm Gaul und Eberhard Schilken bearbeitet wurde. Nur knapp behandelt Gräfe Rosenbergs Kommentierung der §§ 854-902 in dem von Eduard Hölder begründeten BGB-Kommentar  (S. 192f.; 1919). Nach einer inhaltlichen Kennzeichnung der CPO/ZPO von 1877/98 und der ZPO-Novellen von 1904, 1909, 1910 und 1924 arbeitet Gräfe in einem umfangreichen Kapitel die Beiträge Rosenbergs zur „Zivilprozessgesetzgebung“ heraus (S. 210-282). Rosenberg war, wie Gräfe feststellt, „kein Befürworter der liberalen Gestaltung des Verfahrens, die die ZPO von 1877“ prägte (S. 300). Die „Vereinfachung, Kräftigung und Beschleunigung des Verfahrens“ (so der Titel eines Aufsatzes von 1924) durch die Novelle von 1924 fand trotz scharfer Kritik im Einzelnen (u. a. Ablehnung des obligatorischen Güteverfahrens) im Grundsatz seine Zustimmung. Wohlwollender setzte sich Rosenberg mit dem ZPO-Referentenentwurf von 1931 und der darauf aufbauenden ZPO-Novelle von 1933 in umfangreichen Aufsätzen auseinander. So bejahte er die Wahrheitspflicht der Parteien, die Stärkung der Mündlichkeit der Verhandlung, die Beschleunigung durch konzentrierte Vorbereitung der Termine und den Wegfall des Parteieides. Allerdings rügte er die Nichtbeteiligung der Prozessrechtslehrer an der Erarbeitung des Entwurfs und die rechtstechnisch unzureichende Fassung der Vorlage. Die im Entwurf vorgesehene, höchst umstrittene Neugestaltung des Zwangsvollstreckungsverfahrens fand im Grundsatz seine Zustimmung (S. 238ff.). Rosenberg war ein hervorragender Kenner des österreichischen Zivilprozessrechts, dessen Praxis er in einem siebenwöchigen Studienaufenthalt in Innsbruck und Wien 1930 kennenlernte. Er trat seit 1926 für eine Vereinheitlichung des österreichischen und deutschen Zivilprozesses ein. Lediglich das strikte Novenverbot des österreichischen Prozessrechts in der 2. Instanz lehnte Rosenberg ab, und zwar auch noch 1950 in einem Aufsatz in der ZZP (S. 274 ff.). Von den sonstigen Abhandlungen Rosenbergs geht Gräfe u. a. auf einen Aufsatz von 1901 über den Gläubigerverzug und von 1924 über die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunkts im Zivilprozess ein. Nach einer knappen Gesamtwürdigung Rosenbergs (S. 298-301) bringt Gräfe im Anhang u. a. einen Stammbaum, eine tabellarische Kurzbiographie, die Vorlesungsangebote an den Rechtsfakultäten während Rosenbergs Studienzeit (Freiburg, München und Breslau), einen Überblick über die von Rosenberg gehaltenen Lehrveranstaltungen in Göttingen, Gießen, Leipzig und München, ein Werkverzeichnis Rosenbergs mit Nachweis auch der zahlreichen Urteilsanmerkungen (S. 334-350), der Rezensionen, der in Gießen von 1917-1932 betreuten Dissertationen und der Rezensionen der Werke Rosenbergs (S. 370-378). Das Werk wird abgeschlossen mit einem Personen- und Sachverzeichnis.

 

Der Vorzug des Werkes Ulrike Gräfes ist vor allem darin zu sehen, dass sie sich detailliert mit dem Werk Rosenbergs, über den kaum persönliche Unterlagen oder Aussagen vorlagen (S. 298), auseinandergesetzt hat. Das zivilprozessuale Lehrbuch hätte vielleicht noch breiter auch im Hinblick auf die von den Nachfolgeautoren vertretenen Ansichten (insbesondere zum Streitgegenstand) analysiert werden sollen. Die zahlreichen Urteilsanmerkungen bieten hinreichend Stoff für weitere Arbeiten über Rosenberg. Insgesamt ist das vorzüglich recherchierte Werk Gräfes nicht nur für die Biographie Rosenbergs, sondern in gleicher Weise auch für die noch immer ungeschriebene Geschichte des deutschen Zivilprozessrechts des vergangenen Jahrhunderts von großer Wichtigkeit.

 

Kiel

Werner Schubert