Goltermann, Svenja, Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009. 592 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Wie ausnehmend schwierig die Beantwortung der einfach anmutenden Frage, ob die im Zuge von kriegerischen Auseinandersetzungen erfahrene Gewalt ursächlich verantwortlich sein könne für später auftretende ernst zu nehmende psychische Leiden oder ob diese Leiden auf anlagebedingte physiologische Ursachen zurückzuführen seien, ausfallen kann, stellt die Freiburger Privatdozentin und Historikerin Svenja Goltermann in diesem Buch dar, das mit dem renommierten Preis des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands gewürdigt worden ist. Der Zeitraum, den die Untersuchung ins Visier nimmt, reicht vom Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 bis in die beginnenden siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, ihren materiellen Ausgangspunkt bildet ein Bestand an Krankenakten der Psychiatrischen und Neurologischen Abteilung der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel bei Bielefeld, verwahrt - wie im Quellen- und Literaturverzeichnis nachzulesen - im dortigen Hauptarchiv.

 

Im ersten Teil beschäftigt sich die Verfasserin mit der Interpretation von privaten Erinnerungsfragmenten, die sie aus methodischen Gründen auf die Jahre 1945 bis 1949/1950 beschränkt, denn „in der ‚Zusammenbruchsgesellschaft‘ herrschten andere Sagbarkeitsregeln vor als nach der Etablierung von Versorgungsansprüchen, bei denen die Antragsteller von Kriegsopferrenten mit ihren Schilderungen auch einen ganz spezifischen Zweck verfolgten“ (S. 27). Anschließend widmet sie sich im zweiten Abschnitt eingehend der Produktion des psychiatrischen Wissens und den Triebkräften für dessen Wandlung. Der dritte und letzte Teil beleuchtet die Rolle der Medien in diesem Prozess.

 

Diese Gliederung des Bandes macht augenscheinlich, dass Svenja Goltermann der Falle monokausaler Erklärungen dadurch zu entgehen trachtet, dass sie eine ganze Reihe unterschiedlicher Diskurse – sie erfasst gleichermaßen individuelle, gesellschaftspolitische, psychiatrisch-medizinische, juristische und mediale Verhandlungsnetzwerke – im Wege konsequenter Historisierung sehr genau analysiert und dann geschickt zueinander in Beziehung setzt, was nach Auffassung des Rezensenten ausgesprochen gut gelingt und stets in schlüssige wie nicht selten überraschende Folgerungen mündet.

 

Demnach zeige die Untersuchung der Erinnerungsfragmente heimkehrender deutscher Soldaten aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, dass bei jenen „von einer Verdrängung des Krieges und der nationalsozialistischen Verbrechen kaum die Rede“ sein könne, sondern vielmehr „von einer verlängerten Bannzone des Krieges […], die zahlreiche Kriegsteilnehmer unwillentlich gefangen nahm“ (S. 426), und zwar im Wege von Träumen, Bildern, Geräuschen, Ängsten und Selbstzweifeln. Diese Zeugnisse ließen tatsächlich auch keine Tendenz einer allgemeinen Selbstviktimisierung oder gar einer Nivellierung der Leiden der Opfer erkennen. Das Verstummen der Betroffenen selbst im engsten Familienkreis drücke nicht unbedingt eine Flucht vor dem Grauen des Krieges oder aus der Schuld an den Verbrechen aus, sondern sei Manifestation einer durch den Krieg entstandenen Fremdheit sowohl zwischen den Geschlechtern als auch zwischen den Generationen.

 

Suchten die Familien in ihrer Ratlosigkeit ob des devianten Verhaltens eines Kriegsheimkehrers professionelle Hilfe bei den medizinischen Experten, sahen sie sich dort mit einer der Psychiatrie des Ersten Weltkriegs entstammenden dominanten psychiatrischen Lehrmeinung konfrontiert, wonach der gesunde Mensch sogar unter äußersten Belastungen über eine nahezu grenzenlose Fähigkeit verfüge, diese psychisch durchzustehen. Schwer erklärbare psychische Beschwerden wurden im günstigsten Fall als Folgen körperlicher Auszehrung (Hungerkrankheit, Dystrophie) gedeutet. Dieser Kausalzusammenhang ermöglichte zumindest das Eintreten Betroffener in die Kriegsopferversorgung, die rein seelische Störungen nicht als krankhaft anerkannte. Dazu die Verfasserin: „In der Produktion psychiatrischen Wissens kamen damit externe Faktoren zum Tragen, die mit den Erfordernissen des Verwaltungshandelns oder der juristischen Entscheidungslogik darauf einwirkten, was als psychiatrisches Wissen Gültigkeit haben sollte“ (S. 435). Vor allem die Angst, sogenannten „Rentenneurotikern“ – also Simulanten, die sich Ansprüche durch Vortäuschung eines psychischen Leidens zu erschleichen versuchten – aufzusitzen, führte dazu, dass sich viele Gutachter, denen durch die Rechtsförmigkeit des Versorgungsanspruches Zweifelsfreiheit abverlangt wurde, in schwierigen Fällen auf die Diagnose einer anlagebedingten Ursache zurückzogen, was dann für den Rentenwerber automatisch die Ablehnung des Anspruches zur Folge hatte. Impulse aus der Inneren Medizin (Psychosomatik), aus der internationalen medizinischen Fachdiskussion und die verstärkt wahrgenommene Stimme der Opfergruppe der NS-Verfolgten erzeugten Druck in Richtung einer liberaleren Entscheidungspraxis, und sogar innerhalb der Entschädigungsbehörden ortete man rechtlichen Spielraum im Umstand, dass die dem Zivilrecht zugehörige Wiedergutmachung einer weniger strengen Ursachenbegründung bedurfte als die dem Sozialrecht zugeschlagene und damit einer anderen Rechtssystematik folgende Kriegsopferversorgung. Doch selbst Änderungen am Bundesentschädigungsgesetz und verschiedene Grundsatzurteile der Höchstgerichte begründeten nach Goltermann keinen Paradigmenwechsel, im Gegenteil: „Medizinische, moralische und juristische Argumentationen flossen zusammen und generierten eine Praxis, in der – entgegen heute noch gängigen Annahmen - im Falle der Kriegsheimkehrer (und anderer Kriegsopfer) ein Zusammenhang zwischen psychischen Beschwerden und den Erfahrungen in Krieg und Gefangenschaft in aller Regel ausgeschlossen wurde“ (S. 442f.).

 

In der medialen Wahrnehmung sei die Transformation des psychiatrischen Wissens in weitgehend analoger Abbildung nachweisbar. Ganz im Sinn der damals vorherrschenden psychiatrischen Lehrmeinung vermittelten die „Trümmerfilme“ der unmittelbaren Nachkriegszeit zwar das Thema der seelischen Qualen und psychischen Störungen ehemaliger Soldaten, aber stets verbunden mit einer moralischen Aufbaubotschaft und dem Glauben an die menschliche Überwindungskraft. In Verbindung mit den Bemühungen um eine Heimkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion in der ersten Hälfte der 1950er Jahre sei noch einmal ein verstärktes Interesse der Medien für deren psychische Auffälligkeiten zu beobachten, wobei vor allem die Diagnose der Dystrophie in die regionale und überregionale Berichterstattung Eingang gefunden hat. Mit der Wiederaufnahme der NS-Prozesse am Ende dieses Jahrzehnts wandte sich die mediale Öffentlichkeit aber gänzlich von den Kriegsheimkehrern ab und den Opfern der NS-Verfolgung zu: „Der vehemente Appell, den die Medien über die Stimme psychiatrischer Experten an die Öffentlichkeit richteten, sich der Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen endlich zu stellen und damit auch die anhaltenden seelischen Leiden der Überlebenden als verfolgungsbedingt anzuerkennen, zog mehr oder weniger deutliche Grenzen zu dem öffentlich anerkennbaren Leiden der ehemaligen Soldaten“, womit weitgehend „das Reden von einem möglichen Opferstatus der Soldaten so gut wie ausgelöscht“ (S. 446) gewesen sei.

 

In Summe zeichnet die Verfasserin ein sehr differenziertes Bild vom gesellschaftlichen Umgang mit einer spezifischen und umstrittenen Opfergruppe des Zweiten Weltkriegs, den ehemaligen Soldaten der deutschen Wehrmacht, in den ersten 25 Jahren nach Kriegsende. Der besondere Wert ihrer mit einem ausführlichen Endnotenapparat (über 100 klein bedruckte Seiten) belegten Studie liegt im Offenlegen der Interdependenzen verschiedener Diskursregionen, die – wie sie glaubhaft machen kann - einer sachlich angemessenen, zeitgemäßen und bedürfnisadäquaten Hilfestellung für die Betroffenen oftmals im Weg standen.

 

Kapfenberg                                                                                        Werner Augustinovic