Globalgeschichte 1800-2010, hg. v. Sieder, Reinhard/Langthaler, Ernst. Böhlau, Wien 2010. 588 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die immer engmaschigere Vernetzung unserer Welt hat sich, genährt aus einem Bedürfnis nach ganzheitlicher Betrachtung zwecks Erkenntnis und Darlegung maßgeblicher Interdependenzen und ihrer Genese, als separate Disziplin in den Geschichtswissenschaften längst einen festen Platz erobert. Seit geraumer Zeit kursieren in der Branche unterschiedliche Labels für diese integrativen Forschungsansätze: Da ist die Rede von „Globalgeschichte“, aber auch von „Weltgeschichte“, „Transnationaler Geschichte“, „Histoire croisée“, „Makrogeschichte“ und „Universalgeschichte“. Reinhard Sieder und Ernst Langthaler, die beide am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien lehren, bemühen sich im einführenden Text zum vorliegenden Sammelwerk zunächst um die Klärung der Begriffe: Globalgeschichte im weiteren Sinn rekonstruiere vor allem „die verschiedenen Transfers und Vernetzungen über politische und geografische Grenzen hinweg“ und sei daher „am besten multi-, inter- und transdisziplinär – kurz: fächerübergreifend – anzulegen“; sie bedürfe „der Teambildung einer Reihe von Spezialistinnen und Spezialisten für die diversen Aspekte“ (S. 11f.). Mit diesem Diktum grenzen sich die Gestalter des Bandes, neben der Ausweitung des Zeithorizonts bis in die unmittelbare Gegenwart, auch arbeitsmethodisch von Jürgen Osterhammel ab, der mit seiner „Verwandlung der Welt“ (2009) in vielerlei Hinsicht neue Maßstäbe vorgegeben, sein Opus aber als beeindruckende Einzelleistung ins Werk gesetzt hat.

 

Von Europa aus betrieben, sei Globalgeschichte zwar nicht eurozentristisch, aber dennoch zwangsläufig eurozentrisch, indem sie ihre Kategorien und ihre Wissenschaftslogik der westlichen Wissenstradition entnehme; dazu trete ein Theorien-Pluralismus (genannt werden: Historischer Materialismus, Modernisierungs-, Dependenz-, Regulationstheorie, Multiple Modernities nach Shmuel N. Eisenstadt, Weltsystem-Theorie nach Immanuel Wallerstein, systemische Theorie der Weltgesellschaft, institutioneller Internationalismus und Globalismus der Stanford-Gruppe um John W. Meyer), der in die unterschiedlichen Kapitel des vorliegenden Bandes eingeflossen sei. In weiterer Folge setzen sich die Verfasser mit dem theoretischen Fundament von Vergleichs- und Transfergeschichten auseinander, versuchen Globalgeschichte als globale Gesellschaftsgeschichte zu fassen und widmen sich dem schwierigen Problem einer Periodisierung in globaler Perspektive. Der Begriff Globalisierung impliziere, im Gegensatz zu populären Vorstellungen, ihrem Verständnis nach hier gerade „keine sozioökonomische, soziokulturelle oder politische ‚Gleichrichtung‘ der Welt“; zwar würden „die jeweils untersuchten Transfers und globalen Netzwerkbildungen von kapitalistischen ‚Zentren‘ gesteuert werden, jedoch zugleich überall (in Regionen der Ersten, Zweiten und Dritten Welt) auch Prozesse der Regionalisierung auslösen“ (S. 14).

 

Die Herausgeber eingeschlossen, haben insgesamt 18, am Ende des Bandes kurz vorgestellte Autorinnen und Autoren die ebenfalls 18 selbständigen Kapitel bearbeitet, die „keine zusammenfassende Darstellung der Geschichte einzelner Weltregionen (bieten), sondern […] überwiegend diverse Transfers und Vernetzungen zwischen Weltregionen (untersuchen)“ (S. 19): Gesellschaftliche Naturverhältnisse: Globale Transformationen der Energie und Materialflüsse (Fridolin Krausmann/Marina Fischer-Kowalski); Demografie: Der große Übergang (Albert F. Reiterer); Globale Migrationen (Albert Kraler); Landwirtschaft vor und in der Globalisierung (Ernst Langthaler); Wirtschaft: Wachstum und Struktur (Gerd Hardach); Internationale Arbeitsteilung (Gerd Hardach); Internationale Politik (Ulrich Brand); Arbeitsverhältnisse: Weltumspannende Kombination und ungleiche Entwicklung (Andrea Komlosy); Haus und Familie: Regime der Reproduktion in Lateinamerika, China und Europa (Reinhard Sieder); Geschlechterpolitik: Österreich und die USA im Vergleich (Maria Mesner); Die Entstehung der Konsumgesellschaft (Manuel Schramm); Jugend und Jugendkulturen (Rosa Reitsamer); Erziehungswesen: Schule, Berufsausbildung, Universität (Lorenz Lassnigg); Kommunikationsmedien und Gesellschaft (Jörg Requate); Verkehrsrevolutionen (Ralf Roth); Religionen: Die Wiedergeburt des Religiösen im globalen Austausch (Gerald Faschingeder); Revolutionen: Welten auf den Kopf gestellt (David Mayer); Krieg und Militär: Die „große Divergenz“ und ihre Schließung (Thomas Kolnberger). Der Umfang der einzelnen Beiträge bewegt sich im Schnitt um die 30 Seiten; am ausführlichsten handeln Reinhard Sieder über Ehe und Familie (58 Seiten) und Ulrich Brand über internationale Politik (48 Seiten), wohingegen neben den kürzeren Kapiteln über internationale Arbeitsteilung, die Entstehung der Konsumgesellschaft und über die Jugend (jeweils 22 Seiten) Gerd Hardachs Beitrag über Wachstum und Struktur der Wirtschaft mit nur 20 Seiten das quantitative Schlusslicht bildet. Diese ungleiche Gewichtung relativiert sich zwar durch den Umstand, dass eine Reihe weiterer Beiträge wirtschaftliche Belange mehr oder weniger stark berühren (wenn so etwa Ernst Langthaler allein der Landwirtschaft mit 36 Seiten ausgiebig Raum widmet), dokumentiert aber dennoch auch inhaltliche Prioritäten der Herausgeber.

 

Angesichts dieses breiten Spektrums mag man sich fragen, weshalb eine komparative Untersuchung der globalen Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Rechtsordnungen (beispielsweise zwischen dem kontinentaleuropäischen und dem angelsächsischen Rechtssystem) mit der nicht ganz unbedeutenden Frage nach einer möglichen Konvergenz oder Divergenz der Rechtssysteme, aber auch völkerrechtliche Fragen keinen Platz als explizite Themen in dem so vielfältig ausgerichteten Band gefunden haben. An kompetenten Autoren sollte jedenfalls kein Mangel bestehen. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass durch die Integration normativer Aspekte in die diversen Einzelstudien der - irrige - Eindruck entstanden sein mag, damit könne auf ein eigenes Kapitel „Rechtsentwicklung“ verzichtet werden, oder man hat diesen grundlegenden Bereich einfach übersehen.

 

Wie dem auch sei: Eine interessante Lektüre ist der Band allemal, zumal er mit dem Anspruch auftritt, globale Tendenzen bis in die unmittelbare Gegenwart zu verfolgen und festzumachen, und zugleich zur intellektuellen Auseinandersetzung mit seinen resümierenden Feststellungen, Prognosen und Thesen herausfordert. So erfährt der Leser etwa im Kapitel „Internationale Politik“, dass „angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise […] die exklusive G8 nicht mehr der geeignete Modus wirtschaftspolitischer Konsultationen (scheint)“ und im Global Justice Movement „eine Konstante angelegt zu sein (scheint), die internationale soziale Bewegungen seit dem 19. Jahrhundert auszeichnet: Zum einen beziehen sie sich kritisch auf die herrschaftlichen internationalen politischen Institutionen. Zum anderen wird von einigen dieser Institutionen gefordert, dazu beizutragen, globale politische, sozio-ökonomische und kulturelle Prozesse demokratischer, gerechter und ökologisch verträglich zu gestalten“ (S. 252f.). Die zunehmende Inakzeptanz menschlicher Verluste in entwickelten Staaten habe dazu geführt, dass „der Stellenwert der Technik als Movens der Veränderung […] in militärischen Angelegenheiten wieder weit hinter das Politische zurückgefallen“ sei („Krieg und Militär“, S. 579). Religion wiederum solle „stärker als bisher als Produkt einer intellektuellen und auch politischen Anstrengung im 19. Jahrhundert verstanden werden“, was spezifische Beobachtungen ermögliche, wodurch „die These, dass Modernisierung unmittelbar mit Säkularisierung im Sinne eines Bedeutungsverlustes der Religion verbunden ist, […] nach und nach entkräftet“ würde („Religionen“, S. 525).

 

In der Mehrzahl aussagekräftige Illustrationen in Schwarzweiß (Diagramme und Photoreproduktionen) unterstützen - sich auch hier vom Vorbild Jürgen Osterhammel abhebend - die einzelnen Texte dieses klugen und facettenreichen Sammelbandes, deren Anmerkungen jeweils in eigenen, die eingeflossene Sekundärliteratur dokumentierenden Endnotenapparaten erfasst sind.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic