Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters, 19.-21. Jahrhundert. Uses and Abuses of the Middle Ages , 19th-21st Century. Usages and Mésusages du Moyen Age du XIXe au XXIe siècle, hg. v. Bak, János M./Jarnut, Jörg/Monnet, Pierre/Schneidmüller, Bernd, unter Mitarbeit v. Karthaus, Nicola/Lichtenberger, Katharina (= MittelalterStudien 21). Fink, München 2009. 365 S. Besprochen von Mark Tobias Wittlinger.

 

Erschrecken und Empörung stehen am Anfang der Entstehungsgeschichte dieses Tagungsbandes, daraus macht János M. Bak in seinem Vorwort keinen Hehl. Das Erschrecken über die Indienstnahme nationaler Vorstellungen vom Mittelalter durch die Regierungen Ungarns und anderer osteuropäischer Staaten der Gegenwart hätten bei ihm und seinen Studenten das Bedürfnis nach wissenschaftlicher Reflexion geweckt. Das führte zunächst zu einer Arbeitstagung und einem Sommerkurs an der Central European University Budapest und im Frühjahr 2005 dann zu einer internationalen Tagung über „Gebrauch“ und „Missbrauch“ des Mittelalters. Daraus ging schließlich der nun erschienene Band hervor.

 

Dieser bewusst emotionale Zugang schlug sich dementsprechend auch in vielen der Untersuchungen nieder und führte zu subjektiven Wertungen der vorgefundenen Phänomene und zu gelegentlichen politischen Stellungnahmen der Historiker, was hier ausdrücklich erwünscht war. Subjektiv blieb auf analytischer Seite aber auch die Verwendung der beiden titelgebenden Kategorien „Gebrauch“ und „Missbrauch“, wie Bernd Schneidmüller am Ende des Bandes feststellt (S. 340). Die Definition und Unterscheidung beider Begriffe musste immer vom Standpunkt des Betrachters abhängig bleiben, sofern man sich nicht gleich ganz auf neutralere Termini wie „Muster der Verwendung“ zurückgezogen hat.

 

Dem offen emotionalisierenden Vorwort zur Seite gestellt ist die wissenschaftliche Verortung des Themas durch die Einleitung Pierre Monnets. Er gibt darin einige grundsätzliche Linien vor, die in den Einzelartikeln immer wieder auftauchen, etwa den sinnvollen Appell, nicht nur geschichtliche Mythen aufzudecken und zu dekonstruieren, sondern vielmehr die Gründe für ihr Bestehen und ihre Beständigkeit zu untersuchen. Gerade die Tatsache, dass solche Mythen häufig auch nach ihrer wissenschaftlichen Dekonstruktion bestehen bleiben, müsse zur Reflexion über den Umgang von Fachleuten und Nichtfachleuten mit der Geschichte führen sowie über die Stellung und Kommunikationssituation der Mediävisten im wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Kontext.

 

Weitere grundsätzliche und systematische Überlegungen liefert der Artikel Otto Gerhard Oexles. Er schlägt einen weiten, von der Erkenntnistheorie bis zur Gedächtnisgeschichte reichenden Bogen, der zwar überwiegend bereits veröffentliche Gedanken zusammenfasst, diese aber auch konsequent ausarbeitet und treffend auf das Thema des Bandes anwendet. Hervorzuheben ist, dass es sich dabei nicht nur um eine theoretische, sondern vor allem um eine theoriegeschichtliche Einordnung handelt, verbunden mit dem Hinweis auf die große Verschiedenheit der nationalen Traditionen und deren Einfluss auf die Mittelalteraneignung in Wissenschaft und Kultur. Oexles Kerngedanke ist, dass die Reflexion über das Mittelalter grundsätzlich mit der Reflexion über die Moderne verbunden sei (und umgekehrt!), da Epochenzuschreibungen per se etwas über die Aktualität der jeweiligen Gegenwart aussagten. In einem Versuch der Systematisierung unterscheidet er fünf moderne Deutungsmuster des Mittelalters. Neben die in der Forschung bereits weit rezipierten, gegenläufigen Muster vom glücklich überwundenen bzw. unglücklich verlorenen Mittelalter stellt Oexle drei weitere: Die in Deutschland vor allem am Ende des 19. Jahrhunderts und bis ins Dritte Reich hinein verbreitete Idee vom erhofften „Neuen Mittelalter“, die Ablehnung einer Einheitlichkeit der mittelalterlichen Kultur unter Betonung ihrer Vielfalt, Differenzierung und Dynamik (vornehmlich verbreitet durch Max Weber) und schließlich das Deutungsmuster vom Mittelalter und seiner Bildsprache als Medium, mit dessen Hilfe über die eigene Moderne reflektiert wird. Letzteren, wichtigen Gedanken demonstriert Oexle im illustrativen Teil seines Beitrags anhand einiger aussagekräftiger (westeuropäischen) Beispiele aus dem 19. Jahrhundert.

 

Es folgen 21 Beiträge mit spezifischen nationalen oder thematischen Zugängen, überwiegend zu West-, Mittel- und Osteuropa und unter Außenvorlassung Skandinaviens und des europäischen Südwestens. Einen Blick über den europäischen Tellerrand werfen darüber hinaus die Beiträge Gabrielle M. Spiegels und Bert G. Fragners über den Zugang zum Mittelalter in den Vereinigten Staaten bzw. im islamischen Kulturraum Asiens. Die verblüffendsten Ergebnisse sind dabei die große Bedeutung der ethnischen Frage in allen Phasen der sonst sehr von der deutschen Schule geprägten nordamerikanischen Mediävistik, sowie der grundlegend verschiedene Blick aufs Mittelalter durch arabische Gruppen auf der einen und durch persisch-iranische Gruppen auf der anderen Seite. Beides bestätigt die von Oexle betonte Prägung des Mittelalters durch die eigene Moderne. Doch belegt Fragners Beobachtung, dass die erfolgreiche islamische Revolution im Iran bislang kaum Einfluss auf die eher skeptische Beurteilung des Islam im persischen Geschichtsbild hatte, auch die große Beharrlichkeit etablierter Deutungsmuster.

 

Das Pfund, mit dem der Band wuchern kann, und das ihn gegenüber vielen ähnlichen Veröffentlichungen über die moderne Nutzung des Mittelalters heraushebt, ist allerdings die ausführliche Behandlung der osteuropäischen Staaten. Viele lesenswerte Artikel bieten dem westlichen Leser Neues und zum Teil Unvermutetes zum angewandten Mittelalterbild der Gesellschaften ehemaliger sowjetischer, jugoslawischer und dem Ostblock angehöriger Staaten. Dabei wird gerade anhand der erarbeiteten Unterschiede deutlich, wie gewinnbringend es war, hier einen differenzierten, einzelstaatlichen Zugang zu wählen und doch im Kontext des Sammelbandes den Vergleich zu ermöglichen. Auch wird die Aktualität deutlich, die der Rückgriff auf das Mittelalter in Osteuropa zur Bestätigung der nationalen Identitäten im Gegensatz zum westlichen Teil Europas auch heute noch spielt (Schneidmüller, S. 337f.). So demonstriert etwa Dejan Djokić allgemeine Kennzeichen von Nationalmythen und ihrer Verwendung anhand des gut greifbaren und bis in unsere Zeit aktuellen Beispiels des Kosovo-/Amselfeld-Mythos in Serbien. Dagegen zeigt Sergei A. Ivanov, welch geringe Rolle die vorsowjetische Vergangenheit für Politik und Gesellschaft im heutigen russischen Staat spielt. Gründe dafür sieht er in der allzu häufigem Auswechslung der „offiziellen Staatsgeschichte“ der Sowjetunion, die ein allgemein anerkanntes Geschichtsbild verhindert habe, in der derzeitigen unüberschaubaren Vielzahl erhältlicher Schulbücher und generell in der eher imperialen als nationalistischen Mentalität der heutigen Russen. Dieses Fehlen anerkannter Geschichte habe in Russland zu enormem Einfluss und finanziellem Erfolg sogenannter „Pseudo-History“ geführt und die wissenschaftliche Geschichtsforschung weitgehend marginalisiert.

 

Überhaupt zieht sich durch viele Artikel die Beschäftigung mit dem schon in der Einleitung vorgegebene Problem, wie die Stellung von Geschichtsfachleuten im Diskurs über Geschichtsdeutungen heute ist – und wie sie sein sollte. Viele der Autoren belassen es dabei freilich bei der offenen Frage. Andere fordern ein stärkeres, lauteres Engagement der Fachwelt oder warnen vor den Gefahren „attempting to use medieval traditions, neglecting the academic historiography and thus misunderstanding their true contents“ (Dmitry I. Polyviannyi, S. 119), ohne dabei freilich genauer zu erklären, welche Mittel die Akademiker hätten, um dem entgegenzuwirken, oder wie die von ihnen erarbeiteten „wahren Inhalte“ tatsächlich vor Missbrauch geschützt werden sollten und könnten.

 

Ganz praxisbezogen begegnet Stuart Airlie der Frage, wie ein Historiker mit dem enormen Einfluss umgehen soll, den historische Filme dank der „Macht der Bilder“ auf populäre Geschichtsbilder haben. Seine Antwort, diese Filme auch von Expertenseite in der Lehre als Ausgangspunkt von Diskussionen über historische Probleme einzusetzen, ist natürlich alles andere als neu. Nichts destotrotz entwickelt er bei der konkreten, beispielhaften Durchführung an den Filmen „The 13th Warrior“ (1999) und „The Vikings“ (1958) originelle Ideen, indem er etwa – weit abseits von pedantischen Fragen nach der historisch korrekten Schwertform – die moderne und die mittelalterliche Erzählstruktur vergleicht oder grundsätzliche Probleme zur Vermittlung vergangener Wirklichkeiten mit Hilfe der filmischen Stilmittel veranschaulicht.

 

Bernd Schneidmüller schließlich macht in seiner zugespitzten Zusammenfassung aus der Beobachtung der beständigen Verformung des Mittelalters durch die Gegenwart eine Tugend. Geschichte sei immer in Verwendung, entweder im Dienst der Herrschenden oder in der Kritik an ihnen (wobei ersteres weit häufiger vorkomme). Somit sei ein fortwährendes Umschreiben der Geschichte geboten, auch wenn die Arten der Instrumentalisierung je nach Zeit und Ort abweichen, wie an den ost- und westeuropäischen Beispielen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert deutlich geworden sei. Geschichte losgelöst von ihrer Verwendung sei nicht möglich, eine „zeitlose“ Vergangenheit existiere nicht. In diesem Sinne erfolgt wie auch schon bei Oexle der Appell, die Geschichte im Zusammenhang mit ihrer späteren Verwendung zu untersuchen, aber auch den Historiker selbst zu historisieren und als Subjekt mitzudenken. Zugleich müsse die institutionalisierte Geschichtsforschung „ihre wissenschaftliche Verantwortung gegenüber der öffentlichen Wahrnehmung von Geschichte in der modernen Eventkultur neu bedenken“, so die offen gehaltene Forderung. Der insgesamt gelungene, leider nicht durch ein Register erschlossene Band schließt mit Schneidmüllers Prognose, dass der hier noch gewählte eurozentrische Ansatz sich schon bald als überholt und nicht zukunftsfähig erweisen wird angesichts des aktuellen Bedarfs an globalen Deutungsmustern (S. 343).

 

Bretzfeld                                                         Mark Tobias Wittlinger