Gammerl, Benno, Untertanen, Staatsbürger und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867-1918 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 189). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010. 400 S., 9 Abb., 5 Kart., 11 Tab. und Diagr. Besprochen von Martin Moll.

 

Die umfangreichen Migrationen in Europa während der letzten etwa zwei Jahrzehnte und die daraus resultierende Integrationsproblematik haben das Interesse der Forschung an historischen Wanderbewegungen, die zu ethnischer Heterogenität führten, intensiviert. Im Vordergrund steht häufig die Frage, wie das Staatsbürgerschaftsrecht nicht nur europäischer Staaten mit den Zugewanderten umging. Regelmäßig wurde dabei behauptet, ein westliches, auf dem ius soli beruhendes und folglich inklusives Modell sei dem mittel- und osteuropäischen, exklusiven Prinzip des ius sanguinis gegenüber gestanden.

 

Benno Gammerls nun gedruckte Dissertation, vorgelegt 2008 an der Freien Universität Berlin, stellt sowohl diesen Befund als auch und erst recht die daran geknüpften normativen Wertungen (westliche Modernität vs. östliche Rückständigkeit) radikal in Frage. Auf den ersten Blick scheinen die von ihm zu Vergleichszwecken ausgewählten Staaten, das Britische Weltreich und die Habsburgermonarchie, jeweils prototypisch für das beschriebene, bipolare Modell zu stehen. Eine nähere Untersuchung des britischen Herrschaftsbereichs außerhalb des Vereinigten Königreichs (Gammerl befasst sich insbesondere mit dem Dominion Kanada, der Kronkolonie Indien und dem Protektorat Britisch-Ostafrika) ergibt freilich ein völlig anderes Bild, denn dort ging es cum grano salis um die Aufrechterhaltung, ja Festigung der Vorherrschaft des „weißen Mannes“ nicht zuletzt mit den Mitteln des Rechts. Im Ergebnis verblieben Nicht-Weiße nicht allein in einem inferioren staatsbürgerschaftsrechtlichen Status, sie wurden teilweise sogar an unerwünschten Migrationen (etwa nach Kanada) gehindert. Bereits um 1900 und nicht erst nach dem Ersten Weltkrieg, so Gammerl, sei ein im wesentlichen rassistisches Konzept fest etabliert gewesen, das sowohl mit der imperialen Struktur des Empire als auch mit dem spezifisch britischen Begriff von Staatsbürgerschaft (subject, nicht citizen) bestens harmoniert habe.

 

In Österreich-Ungarn hingegen dominierten noch im Untersuchungszeitraum aufklärerisch-josephinische Traditionen eines Etatismus, für den vor allem das Staatswohl (Durchsetzung der Steuer- und Wehrpflicht u. a.) zählte, was wiederum den Staatsapparat auf eine Politik ethnischer Neutralität gegenüber den zahlreichen Nationalitäten der Monarchie verpflichtete. Die 1867 für Cisleithanien verkündete Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz sei somit weitestgehend verwirklich worden. Eine wichtige Ausnahme bildete allerdings das in Form einer Fallstudie näher untersuchte Bosnien-Herzegowina, dessen Bewohner vor und nach der formellen Annexion 1908 aufgrund der dualistischen Struktur der Doppelmonarchie nur als Landesangehörige, nicht jedoch als Staatsbürger galten.

 

Gammerl verfolgt sein Thema nicht nur anhand des Staatsbürgerschaftsrechts im engeren Sinn sowie diesbezüglicher (verwirklichter oder unterbliebener) Reformbemühungen. Beleuchtet werden z. B. auch die Aktivitäten britischer und habsburgischer Vertretungsbehörden im Ausland, Fragen der Zuteilung sozialer Rechte (Alters- und Krankenvorsorge), der Rechtsstatus von Ehefrauen nach Heirat mit einem Ausländer und vieles andere mehr. Neben den Gesetzestexten werden Parlamentsdebatten, Zeitungsberichte und Verwaltungsakten – diese allerdings fast durchgehend nur auf der Ebene der Zentralen in London, Wien und Budapest – ausgewertet und eine Fülle interessanter Beispiele präsentiert.

 

Die Komplexität, ja Kompliziertheit des Themas verlangt dem Leser einiges ab und die oft langen, sehr klein gesetzten Anmerkungen machen die Lektüre nicht leichter. Andererseits versteht es der Verfasser sehr gut, scheinbar verworrene Sachverhalte präzise und nüchtern zu beschreiben. Die immer wieder eingeschobenen Zusammenfassungen bringen die zentralen Befunde dieser innovativen und anregenden Studie auf den Punkt. Sie erschließt wirklich Neuland, korrigiert ältere, allzu holzschnittartige Annahmen und zeigt der Forschung auf, wie fruchtbringend ein komparativer Ansatz sein kann, insbesondere wenn er so wie hier nicht an Gesetzestexten allein klebt, sondern die Thematik in einen breiteren historischen Zusammenhang einbettet.

 

Graz                                                                                                   Martin Moll