Frotscher, Werner/Pieroth, Bodo, Verfassungsgeschichte, 9. Aufl. Beck, München 2010. XXIV, 399 S. Besprochen von Ralf Lunau.

 

Wer unter der Rubrik Grundrisse einen übersichtlichen, flott zu lesenden Text zur deutschen Verfassungsgeschichte vom Spätmittelalter bis 1949 sucht, wird mit diesem Buch fündig. Dabei schaffen es die Autoren, in der gebotenen textlichen Verdichtung die Verbindung zwischen den historisch-politischen, geistesgeschichtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen sowie den verfassungsrechtlichen Etappen plausibel herzustellen. Besondere Erwähnung verdient die Arbeit der Autoren mit den Originaltexten. Die immer auszugsweise abgedruckten Quellen umfassen neben Urkunden verfassungsrechtlichen Charakters Gesetze, Urteile, Parlamentsreden, zeitgenössische Fachbücher und andere. Auswahl, Einordnung und Analyse konzentrieren sich auf das Wesentliche und verlieren dennoch den sprachlichen Duktus der Quellen nicht aus dem Blick, ja lenken zuweilen die Aufmerksamkeit des Lesers auf diesen interessanten Teil des Zeitkolorits. So ist die Lektüre geeignet, nicht nur Lesern mit juristischer Ausbildung die Besonderheit des Verfassungsrechts als Schnittstelle zwischen der tatsächlichen Verfasstheit des Gemeinwesens und der Normierung in Form exegetisch zu lesender Texte verständlich zu machen.

 

Entsprechend der von den Autoren in der Einleitung angekündigten Periodisierung und Stoffbegrenzung beginnt das Buch mit zwei Kapiteln, welche die beiden konstitutiven Elemente der modernen Verfassungsentwicklung in Deutschland skizzieren: Die Entstehung des Verfassungsrechts in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Frankreich sowie der verfassungsrechtliche Status Deutschlands am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Allein das erste Kapitel ist ein mit Gewinn zu lesender Abriss vieler bekannter historischer Ereignisse, die selten in einer solchen gedrängten und zugleich anschaulichen Form in einen Gesamtzusammenhang gestellt werden. Nicht wirklich nachvollziehbar ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung der Autoren, welche Quellen sie in der Sprache des Originals abdrucken und in welchen Fällen sie auf eine Übersetzung zurückgreifen. Dieselben Argumente, die dafür oder auch dagegen sprechen, dem Leser den englischen Text der amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 zur Lektüre anzubieten, treffen wohl in der selben Weise beispielsweise auf den französischen Text der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 zu.

 

Im Anschluss an die Darstellung dieser Grundlagen folgen geordnet nach chronologischen Gesichtspunkten zehn Kapitel über die Entwicklung der deutschen Verfassung: vom Reichsdeputationshauptschluss, über das Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, die Reformen in Preußen, den Deutschen Bund und den Konstitutionalismus in den Ländern, die Paulskirchenverfassung, die Reichsgründung 1871, die Weimarer Republik, den NS-Staat bis zum Grundgesetz und der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik von 1949. Die Autoren widmen in jedem dieser Kapitel einzelne Abschnitte der Analyse zentraler Normentexte und ihrem Zustandekommen in einem umfassenden Sinne, lassen aber anhand prominenter Einzelvorgänge wie z. B. der Protestation der Göttinger Sieben oder dem Potsdamer Flaggenstreit auch den mentalitätsgeschichtlichen Aspekt aufscheinen. Ausgesprochen erhellend ist die ebenso nüchterne, nicht dämonisierende, nach rational zu ergründenden Ursachen forschende wie in ihrer Bewertung eindeutige Darstellung der Entwicklung des Verfassungsrechts des NS-Staats.

 

In dem Kapitel über die Zeit nach 1945 gelingt es den Autoren, vor allem die Entstehung des Grundgesetzes, partiell auch der Länderverfassungen in den westlichen Besatzungszonen als in Normen gegossene Schlussfolgerungen aus dem Scheitern der Weimarer Republik und zugleich als wesentliche Schritte hin zu einer mehrere Jahrzehnte andauernden Zweistaatlichkeit zu erklären. Die Darstellung der Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone kommt leider unberechtigt zu kurz, denn die Autoren deuten selbst an, wie sehr auch dort dieser Prozess keineswegs monokausal und linear verlief. Das betrifft auch die gänzlich unerwähnt gebliebene Verfassung der DDR von 1968, die retrospektiv die Besonderheiten der Verfassung von 1949 aufscheinen lässt. Das Verständnis dieses Abschnittes deutscher Verfassungsgeschichte ist wesentlich, um die Entwicklung in den Jahren 1989 und 1990 zu verstehen. Dies berührt eine in einem wesentlichen Punkt uneingelöste Ankündigung der Autoren, die Verfassungsgeschichte zu recht unter Hinweis auf Hermann Heller „aus der Perspektive des Jetzt“ schreiben wollen. Das ist für die Bundesrepublik Deutschland des Jahres 2010 jedoch nicht möglich, ohne die Entwicklung ihrer Verfassung bis 1989, also zum Beispiel die Auseinandersetzung um die Notstandsverfassung, und vor allem den Prozess der Herstellung der deutschen und der europäischen Vereinigung mit allen Auswirkungen auf das deutsche Verfassungsgefüge, einschließlich wesentlicher Veränderungen am Text des Grundgesetzes darzustellen. Insofern bleibt es bis zur hoffentlich bald erscheinenden 10. Auflage dieses Buches spannend, denn den Autoren dürfte es gelingen, auch diese Vorgänge in dieser hervorragenden Art zu beschreiben.

 

Dresden                                                                                 Ralf Lunau